| Unter dem Einfluss der "Esoterikwelle" hat sich das Heilerwesen in den zurückliegenden vierzig Jahren dramatisch gewandelt.
Zuvor waren in Deutschland vermutlich nur wenige hundert Geistheiler tätig, neben Besprechern und ein paar Exorzisten vor allem christliche Handaufleger und Gebetsheiler. Wenn sie fernbehandelten, dann zumeist, indem sie für Kranke eine Fürbitte an Gott richteten.1 Es überwogen schlichte, bodenständige Gemüter mit geringer Bildung aus mittleren und unteren sozialen Schichten, die meist zurückgezogen in ländlicher Gegend wirkten und vornehmlich aus innerer Berufung halfen. Vollprofis fanden sich kaum darunter: Die meisten übten Geistiges Heilen nebenbei aus, an Feierabenden und Wochenenden - nicht in regelrechten "Praxen", sondern in Wohnzimmern und Küchen; ihren Lebensunterhalt sicherten sie anderweitig. Kommerziell insofern nicht von Heilerhonoraren abhängig, arbeiteten sie vorwiegend unentgeltlich, allenfalls Spenden wurden angenommen. Da Geistheilung selten ein Geschäft war, wurde kaum je Werbung dafür getrieben; ihren Heiler fanden Hilfesuchende überwiegend durch Mundpropaganda, auf Empfehlung von Verwandten und Kollegen, Freunden und Bekannten. Unter solchen Umständen hielten sich Heiler nur, wenn sie in bemerkenswert vielen Fällen tatsächlich etwas therapeutisch Außergewöhnliches, aus ärztlicher Sicht Unerwartetes zustande brachten; andernfalls blieben ihre Stuben leer. (Kein Markt selektiert härter als einer, der auf mündlich kolportierten "Geheimtipps" beruht, in denen Konsumenten ihre persönlichen Erfahrungen mit gewissen Produkten weitergeben.) Daher überwogen Heiler mit jahre-, oft jahrzehntelanger Erfahrung. Ihre Heilbegabung hatte sich fast immer schon in der Kindheit oder Jugend gezeigt. Keiner hatte zuvor eine regelrechte "Schule" durchlaufen, denn es gab keine. Die typische Heilerkarriere begann vielmehr in einer privaten, mehr oder minder intensiven Zweierbeziehung mit einem erfahrenen, bewunderten Vorbild - etwa der Mutter, dem Großvater, dem Nachbarn, dem Bekannten -, das begabte Nacheiferer meist über einen längeren Zeitraum beaufsichtigte und anleitete; oder Heilerfähigkeiten stellten sich unvermittelt ein: etwa nach Eingebungen in Träumen, unter dem Eindruck einer Vision, von einer inneren Stimme angesprochen, auf dem Höhepunkt einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder nach einem schweren Unfall; oder sie kamen bei zufälligem Ausprobieren zum Vorschein. Der traditionelle Heiler ging weitgehend intuitiv vor: Wie von selbst fanden seine Hände jene Stellen, auf die sie aufgelegt werden mussten. Er diagnostizierte nicht eigentlich; er "spürte" irgendwie, wo "etwas nicht in Ordnung" war. Um das, was er tat, machte er wenig Worte. Dazu fehlte ihm das Vokabular. Wenn er erklären sollte, wie und warum er heilen kann, trug er keine ausgefeilte Theorie vor. Seine Kraft und Zuversicht schöpfte er aus Gott - traditionelle Heiler waren durchweg tiefgläubige, praktizierende Christen -, dessen unergründlicher Ratschluss ausgerechnet ihn berufen hatte.
Doch dieser Heilertypus ist im Aussterben begriffen. Seit den sechziger Jahren, als die "Esoterikwelle" über die alternative Gesundheitskultur des Westens hereinzubrechen begann, ist die Zahl der haupt- oder nebenberuflichen Geistheiler in Deutschland zwar auf weit über 10'000 angeschwollen - diejenigen eingerechnet, die zumindest eine Heilerausbildung wie z.B. einen der zwei ersten Reiki-Grade absolviert haben, sogar auf mehrere Hunderttausend. Doch deutlich über neunzig
Prozent dieser Heiler verkörpern inzwischen, auf einem zunehmend kommerzialisierten Markt, einen radikal anderen Therapeutentyp. Überdurchschnittlich viele relativ junge Leute sind darunter, aus der Altersklasse zwischen zwanzig und vierzig, entlassen oder ausgestiegen aus bisherigen Berufen und kaputten Beziehungen - Unausgefüllte, Vereinsamte und Frustrierte, von Selbstzweifeln und Sinnkrisen Geschüttelte, neuen Halt, Orientierung und Einkommen Suchende. Ihre Berufung entdeckten sie in
Begegnungen mit Astrologen, “Hellsichtigen”, Medien, "spirituellen Weisheitslehrern", Bhagwans oder anderen respektierten Autoritäten der Esoterikszene, in Kursen und Workshops, an Messeständen, in Literaturstudien, auf ausgedehnten Selbstfindungstrips zu den süßlich durchräucherten Szenetempeln im Großstadtdschungel oder zu Ashrams und anderen exotischen Retreats in der Dritten Welt. Traditionellen Heilern wurde ihre Fähigkeit zuteil - esoterische erlernen sie, ähnlich
wie die Kunst des Deutens von Horoskopen oder Tarotkarten. Um ihre Ausbildung kümmern sich hierzulande inzwischen mehrere hundert private Schulen, zumeist Ein-Mann/Frau-”Institute”; weil angeblich “in uns allen ein Heiler steckt”, befördern sie jedermann, der die verlangten Gebühren bezahlt, im Schnelldurchlauf zu "Heilern" - manchmal schon an einem einzigen Wochenende, zumeist nach höchstens einem Dutzend Kurstagen. "Der Film", meinte Alfred
Hitchcock einmal, "ist vielleicht die einzige Branche, in der sich mancher als Meister fühlt, bevor seine Lehrzeit überhaupt begonnen hat." Mit der westlichen Heilerszene war er offensichtlich nicht vertraut. Derart "ausgebildet", bemühen sich immer mehr Absolventen gleich anschließend darum, auf der Geistheilerei eine neue berufliche
Existenz aufbauen; das erfordert feste Honorarsätze - deren mitterweile branchenübliche Höhe schon manchen niedergelassenen Arzt oder Psychotherapeuten vor Neid erblassen lässt - und eine Eigenvermarktung, die hinlänglich viele Kunden lockt. Und so schaltet der neue Heilertypus vielversprechende Inserate, lässt imposante Visitenkarten und Imagebroschüren drucken, präsentiert sich auf Esoterikmessen und im Internet, biedert sich Journalisten an. Und er legt Wert auf Vermittlungsdienste,
werbeträchtige Titel und Diplome. Die sind mittlerweile leicht zu ergattern, zumindest für Zahlungswillige: Die meisten Heilerschulen bieten ihren Absolventen solchen Service, ebenso wie die Info-Dienste und Prüfungskommissionen etlicher Heilervereine ihren zahlenden Mitgliedern - eine Hand wäscht die andere. In Ermangelung wissenschaftlich abgesicherter Testmethoden, ob einer wirklich heilen kann2, erwächst daraus die Gefahr eines
monströsen, flächendeckenden Etikettenschwindels, den ein paar Insider durchschauen mögen, aber wohl kaum der typische Hilfesuchende. Das Risiko, an unerfahrene, mäßig begabte, sich selbst überschätzende Möchtegerns zu geraten, war für Patienten, die sich auf Geistiges Heilen einlassen möchten, noch nie größer als heute - die Chance, Könner anzutreffen, entsprechend gering. Ausgesprochen tragisch ist diese Fehlentwicklung nicht nur für den Kranken, der Hilfe sucht, sondern letztlich auch für
das Geistige Heilen als Therapieform: Einerseits fanden Anwender noch nie eine liberalere Rechtslage vor3; noch nie zeigten sich mehr Ärzte bereit, Heiler in ihre Praxen und Kliniken einzubeziehen, und sich ihre Vorgehensweisen zu eigen zu machen4; noch nie richteten mehr Wissenschaftler Forschungsprojekte darauf5; noch nie waren
Massenmedien eher bereit, dafür Druckseiten und Sendeplätze freizuräumen. Dass ausgerechnet jetzt das unzweifelhafte Potential Geistigen Heilens von einer unheiligen Allianz aus esoterischen Nebelwerfern und geschäftstüchtigen Cleverles, Wichtigtuern und Wirrköpfen, Anfängern und Beihelfern verschüttet wird, ist traurig - und für Hilfesuchende fatal. Einer Geistheilung bedarf seit längerem zuallererst die Heilerszene selbst.
Was also tun?
Auch in noch so schwerer Krankheit dürfen Patienten nicht aufhören, mündige Bürger zu sein. Informationen, die nirgendwo bequem vorsortiert abzuholen sind, müssen sie wohl oder übel selbst zusammentragen und bewerten, im Vertrauen auf die eigene Kritikfähigkeit und Menschenkenntnis.
Anmerkungen
1 Dem Handauflegen, Gebetsheilen und Besprechen widme ich jeweils ein Kapitel im Großen Buch vom Geistigen Heilen - Möglichkeiten, Grenzen, Gefahren, Lea Verlag: Schönbrunn, 4. Aufl. 2003, siehe S. 23 ff., 84 ff., 189 ff. 2 Siehe H. Wiesendanger: Geistheiler - Der Ratgeber. Was Hilfesuchende wissen sollten: Ehrliche Antworten auf 45 spannende Fragen, Lea Verlag: Schönbrunn, 3. Aufl. 2004 3 In einem bahnbrechenden Urteil vom 2. März 2004 befreite das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, zum Entsetzen der Interessenvertretungen etablierter Heilberufe, geistig Heilende in Deutschland von dem Zwang, eine Heilpraktikerprüfung beim zuständigen Gesundheitsamt
abzulegen. Siehe www. psi-infos.de, Rubrik "News 2004". 4 Siehe H. Wiesendanger (Hg.): Geistiges Heilen in der ärztlichen Praxis - Damit die Humanmedizin humaner wird, Lea Verlag 2003, 4. erweiterte Aufl. 2004 5 Siehe Fernheilen, Band 2, sowie H. Wiesendanger: Das Große Buch vom Geistigen Heilen, a.a.O, Kap. IV: "Geistheilung im (Zerr-)Spiegel der Wissenschaft", S. 259-303
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