Jede Sekunde sterben auf der Erde zwei Menschen. Ende oder Übergang? Ob nach einem Unfall oder auf dem Höhepunkt einer lebensbedrohlichen Erkrankung, bei einem Selbstmordversuch oder einer gefährlichen Operation - wer bewußt dem Tode nahe ist, macht in zwei von drei Fällen weitgehend die gleiche* Erfahrung: Er scheint sich von seinem
physischen Leib zu lösen und von oben auf ihn herabzuschauen. (Siehe Außerkörperliche Erfahrungen). Dann tritt er in eine tunnelartige
Übergangszone ein. Je näher er deren Ausgang kommt, desto stärker wird ein weiß-goldenes, strahlendes Licht, das ihn mit Gefühlen von unendlicher Liebe, Frieden und Glück erfüllt. Er nimmt eine paradiesische Landschaft wahr (in seltenen Fällen allerdings eher ein Höllenszenario). Dort begegnet er verstorbenen Verwandten, religiösen Gestalten oder unbekannten Lichtwesen, mit denen er stumm, anscheinend telepathisch, kommunizieren kann. Mancher Reanimierte gibt an, daß er von ihnen
"zurückgeschickt" wurde, weil seine Zeit noch nicht gekommen sei. Ein "Lebensfilm" läuft ab, in dem er wie im Zeitraffer wichtige Stationen seines Lebens nachvollzieht. Wenn Wiederbelebungsversuche erfolgreich sind, fühlt er sich meist abrupt in seinen Körper zurückgerissen. Solche Erlebnisse hinterlassen fast immer tiefe, nachhaltige Spuren: Die Angst vor dem Tod verschwindet, in der Gewißheit,
daß es "danach" weitergeht. Die Betroffenen werden ruhiger, heiterer, gelassener, überhaupt seelisch gesünder - und religiöser. Einer Gallup-Umfrage Anfang der Achtziger Jahre zufolge wollen 34 Prozent aller erwachsenen Amerikaner, die schon einmal dem Tode nahe waren, ein solches Erlebnis gehabt haben. Ethnologische Studien fanden Berichte darüber in Kulturen rund um den Globus.
"Nah-Todeserlebnisse" (engl. near-death experience, abgekürzt NDE) sind universelle menschliche Erfahrungen, unabhängig von soziologischen, demographischen oder psychologischen Besonderheiten. Nachdem mehrere populäre Sachbücher das Phänomen einer breiten Öffentlichkeit bekanntgemacht hatten - insbesondere von Raymond Moody, Kenneth Ring, Elisabeth Kübler-Ross -, begann Mitte der siebziger Jahre seine
systematische wissenschaftliche Erforschung. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die 1977 gegründete "International Association for Near Death Studies" (IANDS), in der sich unter dem Vorsitz des Psychiaters Bruce Greyson mittlerweile über eintausend Mitglieder in einem knappen Dutzend Arbeitsgruppen organisiert haben: darunter zahlreiche Psychologen, Parapsychologen, Mediziner und Religionswissenschaftler. Forschungsergebnisse werden in dem vierteljährlich erscheinenden
"Journal of Near-Death Studies" veröffentlicht. Je gewaltigere Datenberge sie vor uns auftürmen, desto deutlicher wird, daß Nahtodeserlebnisse als das ernstgenommen zu werden verdienen, was sie für die Betroffenen selbst fraglos sind: möglicherweise realistische Ausblicke in eine andere Wirklichkeit. Denn: NDEs deuten kaum je auf psychische Störungen hin.
Geisteskranke erleben sie nicht häufiger als Gesunde. Auch haben sich NDE-Erfahrene in psychologischen Tests eher als psychisch überdurchschnittlich stabil erwiesen, verglichen mit verschiedenen Kontrollgruppen. NDEs beruhen im allgemeinen nicht auf Vorinformationen. Oft wenden Kritiker ein, in solchen Erfahrungen spiegelten sich lediglich erlernte religiöse Überzeugungen über das nachtodliche Schicksal der menschlichen Seele und ihre "jenseitige" Heimat. Doch auch Kinder - teilweise sogar im vorsprachlichen Alter - haben NDES, die denen von Erwachsenen weitgehend ähneln. (Siehe Die Jagd nach Psi, Kapitel “Sterbende Kinder blicken ins ‚Jenseits‘”.) NDEs sind mehr als phantasievoll ausgestaltete Wunscherfüllungen. Die meisten Menschen fürchten den Tod - doch gerade ihm stellen sich Sterbende im NDE. Außerdem fallen Wünsche zu individuell aus, als daß sie die erstaunlichen Gemeinsamkeiten in den Nah-Todeserlebnissen von Menschen aller Altersgruppen, Sozialschichten und Kulturen erklären könnten. In NDEs kommt nicht bloß ein
'Archetyp des kollektiven Unbewußten' zum Ausdruck, wie Psychoanalytiker in der Tradition von Carl Gustav Jung mutmaßen. Jungs Ansatz erklärt ebensowenig wie jede andere rein psychologische Theorie, wie es im Verlauf von NDEs zu verifizierbaren außerkörperlichen Erfahrungen kommen kann - selbst bei klinisch Toten, deren Herzschlag und Atmung bereits ausgesetzt hatten. (In Einzelfällen stellten sich NDEs sogar bei
EEG-Nullinie ein.) Übrigens machte Jung selbst eine Nah-Todeserfahrung, die ihn zutiefst erschütterte und in seinem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod bestärkte. NDEs wiederholen nicht einfach bloß die Erfahrung der Geburt. Eher sind sie das Gegenteil davon: Die
schmerzvolle Geburtspassage, hinaus in eine fremde, kalte Umgebung mit einem eher bedrohlichen Geburtshelfer, hat wenig zu tun mit dem schwebend leichten, von stärksten Glücksgefühlen begleiteten Gang durch den "Tunnel" ins Licht. Im übrigen unterscheiden sich die NDEs Kaiserschnitt-Entbundener nicht von denen, die "natürlich" zur Welt Gebrachte schildern. Daß NDEs durch Halluzinogene wie LSD und
Ketamin oder durch Elektrostimulation künstlich ausgelöst werden können und nachweislich mit erhöhten Aktivitäten bestimmter Hirnareale einhergehen, spricht nicht gegen ihren Wirklichkeitsgehalt.Auch die Wahrnehmung dieses Computermonitors hat ein neurophysiologisches Korrelat. Aber wird der Monitor dadurch unwirklich? Anmerkung: * Nahtodeserlebnisse werden allerdings kulturell
mitgeprägt – siehe Die Jagd nach Psi, S. 159 ff.: “Inder sterben anders”. Lesetips: Hubert Knoblauch / Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Todesnähe. Interdisziplinäre Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen. UVK Universitätsverlag Konstanz 1999. Hubert Knoblauch: Berichte aus dem Jenseits - Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung. Herder/Spektrum: Freiburg i. Br. 1999. E. Kübler-Ross: Über den Tod und das Leben danach. Melsbach/ Neuwied 1986. M. Morse/P.Perry: Was wir von Kindern lernen
können, die dem Tod nahe waren. Frankfurt a.M. 1992. R. Moody: Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärten Erfahrung. Reinbek b. Hamburg 1977. K. Osis/E.Haraldsson: Der Tod - ein neuer Anfang. Freiburg i.Br. 1978. K. Ring: Den Tod erfahren - das Leben gewinnen. Bergisch-Gladbach 1990. M.B. Sabom: Erinnerung an den Tod: Eine medizinische Untersuchung. Berlin 1986. C. Zaleski: Nah-Todeserlebnisse und Jenseitsvisionen, Frankfurt
a.M. 1993. Journal of Near-Death Studies. Human Sciences Press, Inc., New York, N.Y. 10013-1578. |