Erst 28 war sie, hatte ihr Medizinstudium gerade erfolgreich hinter sich gebracht und stand nun kurz davor, sich ihren Lebenstraum zu verwirklichen: als Ärztin zu arbeiten. Doch
ausgerechnet dann, vor sechs Jahren, zog sich Katharina P. eine Grippe zu, die zu schweren Komplikationen führte. Eine langwierige Herzmuskelentzündung ist inzwischen zwar abgeklungen. Doch eine Encephalitis hat die junge Frau auf Dauer arbeitsunfähig gemacht; bis heute leidet sie an Sprach- und Gleichgewichtsstörungen. Wozu musste ihr das widerfahren? Damit befasst sich die Berlinerin in einem bewegenden Essay, den sie den Veranstaltern der diesjährigen “Psi-Tage”
anlässlich eines Autorenwettbewerbs zur Sinnfrage einreichte. Dieselbe Frage quält die meisten Patienten, die an einer schweren, vielleicht sogar lebensbedrohlichen Krankheit leiden – womöglich verbunden mit Schmerzen, mit Entstelltsein, mit Behinderung, mit eingeschränkter Freiheit und vereitelten Zukunftschancen. Warum gerade ich? Wieso jetzt? Weshalb ausgerechnet dieses Leiden? Die medizinischen Ursachen liegen zumeist auf der Hand; aber Betroffenen
genügt es nicht, sie zu kennen. Sie fragen nach tieferen Gründen. Sie wollen verstehen. Ähnliche Fragen beschäftigen Menschen, nachdem sie Opfer von Unfällen und Gewalt geworden sind; wenn sie verlieren, was ihnen am teuersten war; wenn sie das Schicksal Anderer betroffen macht, die unschuldig leiden. In solchen Situationen Trost zu spenden und das Unfassbare zu erhellen, war von jeher ein Anliegen aller Religionen, und auch esoterische Schulen bemühen sich darum. Stets
geben sie zu bedenken: Könnte der Schein nicht trügen? In schwerer Krankheit mag eine Chance liegen: innezuhalten, Belastendes loszulassen, sein Leben zu überdenken und neu auszurichten, sich auf das Wesentliche zu besinnen, an der Prüfung zu wachsen und zu reifen. Verluste können frei machen: für neue Aufgaben, für neue Beziehungen. Und vielleicht, so legen Reinkarnationsgläubige nahe, sind Betroffene gar nicht völlig unbeteiligt an dem, was ihnen widerfährt: Könnte darin ein
“Karma” nach Ausgleich suchen, das sie in früheren Leben angehäuft haben? Oder etwas auf sie zugekommen sein, das sie durch gewisse Gedanken, Einstellungen, Emotionen unbewusst “energetisch angezogen” haben? Sind von Hellsichtigen und Medien Aufschlüsse darüber zu erwarten? Oder von unserem eigenen “Höheren Selbst”, das uns vielleicht in der Meditation oder anderen veränderten Bewusstseinszuständen offenbart, was es über uns weiß? Skeptiker verengen die
Debatte über solche Sichtweisen gerne auf deren Erkenntnisansprüche – und diese sind umso zweifelhafter, je dogmatischer sie Allgemeingültigkeit beanspruchen. (Haben wirklich alle Krankheitsbilder eine tiefere Bedeutung, und das in jedem Einzelfall? Sind Symptome immer Signale? Ist jeder Patient seines Unglücks Schmied?) Unabhängig davon gilt aber, an der Esoterik des Unglücks ihre Funktion zu beurteilen: In Krisensituationen fühlen sich immer mehr
Menschen durch sie getröstet und aufgerichtet, erbaut und ermutigt – in höherem Maße als durch kirchliche Lehrgebäude. Zumindest Pragmatismus spricht also dafür, esoterische Sinnkonzepte zu würdigen. Uns alle wird, unentrinnbar, der Tod ereilen. Macht er das Leben nicht sinnlos, sofern mit dem Erlöschen unserer körperlichen Funktionen auch unsere Existenz endet? Keine Religion, keine esoterische Schule findet sich mit unserer vollständigen Vernichtung, unserem Nichts-Werden ab; sie
alle lehren ein Weiterleben in irgendeiner Form, sei es als geisterhaftes Etwas, das wesentliche Merkmale unserer Person in andere Sphären weiterträgt – auf ewig oder zumindest bis zur nächsten Inkarnation; sei es als Bestandteil eines umfassenden Ganzen, in dem es seine Individualität verliert wie ein Tropfen im Ozean. Etliche Vorträge und Diskussionen des ersten “Psi-Tags” werden sich nicht nur damit befassen, wie gut die Gründe tatsächlich sind, an ein Überleben des Todes
zu glauben, und wie wir uns eine körperlose Art des Fortbestehens vorzustellen haben. (Namhafte Medien werden in Basel demonstrieren, wie sie sich Zugang zu “jenseitigen” Welten verschaffen.) Im Raum wird auch die Frage stehen, ob wir ohne die Aussicht auf Unsterblichkeit tatsächlich in Orientierungskrisen geraten müssen. Welchen Sinn erhielte ein Dasein erst, wenn es niemals enden würde? Sinnfragen werden aber nicht bloß von fatalen Ereignissen aufgeworfen, sondern auch
von mancherlei positiven Überraschungen. Unter einem besonderen Stern steht anscheinend ein gewisser Trent Morgan: Der 31 Jahre alte Australier hatte am 7. Juli 2005 gerade die U-Bahn-Station “King´s Cross” in London verlassen, als unter der Erde ein Zug explodierte – zerfetzt vom Sprengstoff eines islamistischen Selbstmordattentäters. Ähnlichen Dusel hatte Morgan schon einmal: Auch bei den Terroranschlägen auf zwei Discos auf der indonesischen Insel Bali, bei denen mehr als
200 Menschen getötet wurden, hatte er nur Minuten zuvor einen der Nachtclubs verlassen.2 Ist da purer Zufall im Spiel, oder steckt mehr dahinter: ein Wink des Schicksals, eine geheime Vorsehung, ein karmisch bedingtes Ereignis, das Eingreifen von Engeln und anderen himmlischen Wesenheiten? Die Leichenberge, zu denen sich tagtäglich die Opfer von Naturkatastrophen, Kriegen, Unfällen, Verbrechen auftürmen, nähren
Zweifel, wie weise und liebevoll höhere Mächte sein können, die all das zulassen. Als Inbegriff des Glücks gilt ein Volltreffer im Lotto; Langzeitstudien an Lottomillionären deuten indes eher darauf hin, dass sich mit dem unverhofften Geldsegen plötzlich Chancen eröffnen, die zumeist auf tragische Weise vertan werden. Und wie steht es mit unvorgesehenen Begegnungen, die unsere Biographie oft nachhaltiger bestimmen als jede bewusste Lebensplanung? Machen wir bloß
“zufällig” eine neue Bekanntschaft, die nicht nur in eine kritische Lebensphase fällt, sondern uns ausschlaggebende Impulse gibt, aus der Krise herauszufinden? (“Zufall”, so mutmaßte der französische Schriftsteller Francois Thibault (1844-1924), “ist vielleicht das Pseudonym Gottes, wenn er nicht selbst unterschreiben will.”) Solche merkwürdigen “Synchronizitäten” waren schon dem großen Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung
aufgefallen; weil sie “akausal” sind, fallen sie durch das Raster herkömmlicher wissenschaftlicher Forschung. Fakt sind sie trotzdem, und sie harren der Erklärung, wie viele Phänomene, die bei den “Basler Psi-Tagen” seit 1983 präsentiert werden. Eine sonderbare “Synchronizität” war es offenbar auch, die Katharina P. schließlich half, ihr Leiden als Wegbereiter begreifen zu lernen. Inmitten ihres scheinbar
ausweglosen Elends, am Ende einer hoffnungsvollen Berufskarriere, setzte bei ihr eine Serie rätselhafter, äußerst eindrücklicher Träume ein, in der ihr immer wieder gesagt wurde, sie sei eine “Bewahrerin”. Eine Heilerin, bei der sie deswegen Rat suchte, wusste die nächtliche Eingebung für sie zu deuten: Dies sei eine “Initiation” gewesen, mit welcher sie allmählich auf ihre eigentliche Lebensaufgabe vorbereitet werden solle: Wissen zu erhalten und weiterzugeben, das
sie in mehreren Vorleben als Schamanin angehäuft habe. Bald darauf entdeckte sie, dass sie mit bloßen Händen heilen konnte: Bei einer Freundin verschwanden starke Verspannungen im Nacken innerhalb weniger Minuten; bei einer Bekannten verkleinerte sich unter ihren Händen verblüffend rasch ein verdächtiger Knoten in der Brust. “Was mein Leben zu zerstören schien”, sagt Katharina P. rückblickend, “eröffnete mir in Wahrheit ein
neues.”
(HW) |