«Es ist für mich unfassbar, dass es ausgerechnet mir passiert ist», sagt Delicia Cirolli aus Paterno, einer kleinen Arbeiterstadt auf Sizilien, am Fuße des Ätna. «Gott hat mir ein neues Leben geschenkt.» Nur noch zwei lange Narben an ihrem rechten Bein, die auch von einem Fahrradunfall herrühren könnten, erinnern an den unsäglichen Leidensweg der heute knapp 50jährigen Frau. An ihr vollzog sich eines der vorläufig letzten von knapp siebzig «Heilwundern» von Lourdes, die
von der Kirche offiziell anerkannt worden sind.
Die Tochter eines Landarbeiters war zwölf Jahre alt, als sie nach dem Sportunterricht in der Schule plötzlich ihr rechtes Bein nicht mehr bewegen konnte. «Die Lehrerin schickte mich nach Hause, weil ich große Schmerzen hatte. Eine Woche lag ich im Bett - aber es wurde nicht besser.» Als sie an der Universitätsklinik von Catania geröntgt wurde, zeigte sich eine Geschwulst am Schienbein. Die Gewebeprobe ergab: bösartiger Knochenkrebs. Eine
zweite Untersuchung in der Turiner Universitätsklinik verschlimmerte die Diagnose noch: Der Krebs war bereits weit fortgeschritten, im ganzen Körper hatten sich Metastasen gebildet. «Wenn wir Delicia das Bein nicht amputieren, wird es mit ihr sehr rasch zu Ende gehen», wurde Delicias Eltern erklärt. «Aber selbst nach einer Amputation wird sie voraussichtlich nur noch ein paar Monate überleben. Finden Sie sich damit ab.»
Wunderheilung in Lourdes?
Ihre letzte Hoffnung setzte die Familie auf den berühmten Marienwallfahrtsort Lourdes am Fuße der französischen Pyrenäen. Am 13. August 1976 brach Delicia, begleitet von ihrer Mutter, dorthin auf. Sie war derart schwach, dass sie nicht mehr gehen konnte und auf einer Krankenbahre liegen musste; das Bein schmerzte unerträglich, vom Knie abwärts hatte sich die Haut bereits schwarz verfärbt. Dreimal wurde Delicia in die berühmte Grotte getragen, zur Statue der Heiligen Jungfrau; nur
einmal tauchte sie ihre Hand in das Becken, in dem sich das in der Grotte entspringende Quellwasser sammelte.
Zunächst schien die Reise umsonst: Nach Paterno zurückgekehrt, verschlimmerte sich Delicias Zustand weiter, obwohl sie, ungebrochenen Mutes, Tag für Tag mitgebrachtes Lourdes-Wasser schluckte. «Wir dachten, es geht mit ihr zu Ende», erinnert sich ihre Mutter. «Der Pfarrer gab ihr die Sterbesakramente. Delicia konnte nicht mehr essen, sich nicht mehr bewegen. Sie lag nur noch
apathisch auf dem Bett, war stark abgemagert.»
So vergingen drei Monate. Doch dann, an Weihnachten 1976, stand Delicia plötzlich im Türrahmen der Küche, wo ihre Mutter gerade das Essen zubereitete: «Mama, ich will nach draußen, ich war schon so lange nicht mehr an der Luft.» Sie ging kraftvoll, ohne Schmerzen.
Fast sechs Jahre lang prüfte ein fünfzehnköpfiges internationales Ärztekomitee Delicias Fall, ehe es Anfang Oktober 1982 bei nur einer Gegenstimme beschloss, ihn als
«wissenschaftlich nicht erklärbare Heilung» anzusehen. Sieben weitere Jahre vergingen, bis die katholische Kirche entschied, offiziell von einem «Wunder» zu sprechen: «Die Heilung war ein göttlicher Akt», erklärte der federführende Erzbischof Luigi Bonmarito.
Unter den drei bis vier Millionen Pilgern, die jedes Jahr gen Lourdes ziehen, vermuten Experten zwischen 30’000 und 60’000 Kranke, die sehnsüchtig auf ähnliche «Wunder» hoffen. Hoffen sie zu Recht?
Dass Besuche
in Lourdes bisweilen tatsächlich Genesungen einleiten, die vom medizinischen Standpunkt unfassbar sind, kann ernstlich niemand bestreiten, zumindest nicht in bezug auf ein Großteil der 67 offiziell anerkannten Fälle. Denn ehe es zu einer solchen Anerkennung kommt, müssen mehrere kritische Prüfinstanzen durchlaufen sein. Vor Ort werden gemeldete Heilungen zunächst vom «Bureau Medical» protokolliert und untersucht; für jeden Fall wird ein Krankenblatt angelegt, das den Verlauf des Leidens,
begleitende Therapien und bisherige ärztliche Diagnosen festhält. In diesem Kontrollbüro können alle in Lourdes anwesenden Ärzte mitarbeiten, gleich welcher Religion und Nationalität.
Die entscheidende wissenschaftliche Anerkennung gewährt aber erst eine zweite Instanz: ein aus dreißig Ärzten bestehendes Komitee der «Internationalen Medizinischen Vereinigung Unserer Lieben Frau von Lourdes» mit Sitz in Paris. Hier werden die vom «Bureau Medical» eingereichten Heilungsberichte, unter
Hinzuziehung von Spezialisten, noch gründlicher durchleuchtet. Um Anerkennung zu finden, muss ein Fall mehrere Kriterien erfüllen: Die Heilung muss plötzlich, unvorhersehbar, vollständig und ohne Rückfall erfolgt sein; das Leiden muss lebensbedrohlich und organischen Ursprungs gewesen sein; es muss ausgeschlossen werden können, dass es nicht ärztliche Behandlung war, die zum Erfolg führte. Die wiederholten Untersuchungen ziehen sich in der Regel über mehrere Jahre hin, ehe das Komitee per
einfachem Mehrheitsbeschluss die Feststellung treffen (oder auch verwerfen) kann, dass eine Heilung «die Kräfte der Natur übersteigt, eine Umkehrung der Naturgesetze bedeutet und wissenschaftlich unerklärbar ist». Von einem «Wunder» zu sprechen, ist dabei verpönt; diesen Ausdruck benutzt erst die Kirche, an welche die Kommission ihr Gutachten abschließend übergibt.
Aber rechtfertigen 67 glaubhafte «Heilwunder» die gläubige Erwartung von Lourdes-Wallfahrern, ausgerechnet an ihnen würde
sich ein solches wiederholen? Noch im Jahre 1874 - sechzehn Jahre, nachdem dem Bauernmädchen Bernadette Soubirous 1858 in der Grotte von Massabielle achtzehnmal die Gottesmutter erschienen sein soll - hatten sich in Lourdes nicht mehr als vierzehn Heilung suchende Pilger eingefunden. Um die Jahrhundertwende kamen jährlich etwa 4500 Besucher, nach dem Zweiten Weltkrieg um die 20’000; heute sind es über drei Millionen Pilger. Seit Kriegsende hat Lourdes weit über hundert Millionen
Menschen beherbergt, unter ihnen vermutlich anderthalb Millionen Kranke. Was zählen da ein paar Dutzend «Wunderheilungen»?
Kranke Lourdes-Besucher rechnen indes mit anderen Zahlen: Denn in der Geschichte von Lourdes sind immerhin 6000 Heilungen gemeldet und registriert worden. Dass ihnen Anerkennung versagt blieb, spricht nicht unbedingt gegen ihre Glaubwürdigkeit; denn wieso soll sich ein «Wunder» nicht auch langsam, bei funktionellen Leiden und von Rückfällen begleitet vollziehen
können? Im übrigen könnte sich hinter den 6000 registrierten Fällen eine unabschätzbar hohe Dunkelziffer verbergen. Viele Kranke melden eine positive Wende gar nicht erst, zumal dann nicht, wenn sich diese (und das ist die Regel) erst längere Zeit nach ihrer Rückkehr abzeichnet: sei es aus Bequemlichkeit oder aus dem entmutigenden Wissen um die strengen Prüfungskriterien oder in der (möglicherweise irrigen) Meinung, eine begleitende Therapie habe die plötzliche Besserung herbeigeführt. Aber
auch solche Überlegungen ändern nichts daran, dass die statistische Chance, in Lourdes Heilung zu finden, verschwindend gering bleibt. Die Zuversicht eines Pilgers kann dies freilich nicht erschüttern: Falls ausgerechnet er es ist, den Gott für einen Gnadenakt auserwählt hat, so scheint es einerlei, ob er einer unter drei ist - oder unter drei Millionen. Verhindern denn die astronomisch geringen Hauptgewinnchancen bei Lotterien, dass es immer wieder Glückspilze gibt - und immer wieder
Millionen mitmachen?
Wie selten Lourdes-Heilungen auch vorkommen, eine Herausforderung für Mediziner stellen sie in jedem Fall dar. Sie geschehen, sie widersprechen scheinbar gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, und deshalb bedürfen sie der Erklärung. Müsste nicht eine einzige Anomalie genügen, um ein ganzes Weltbild aus den Angeln zu heben?
Für die wundersam Genesenen selbst steht die Erklärung im allgemeinen außer Frage: Ihre Gebete wurden erhört, die Allmacht Gottes
hat sich an ihnen erwiesen. Aber wieso mussten sie erst nach Lourdes aufbrechen, damit ihnen dies widerfuhr? Wieso mussten sie überhaupt irgendwohin? |