Sein Brüderchen schlief wie gewöhnlich in seiner Wiege, so dachte er. Aber dieses Mal war etwas seltsam verändert. Die
Wiege war “geschmückt mit süß duftenden Blumen”, erinnert sich Henry Pickering, ein amerikanischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, an sein leidvollstes Kindheitserlebnis. “Verwundert blickte ich genauer hin. Seine kleine Brust bewegte sich nicht. Sachte griff ich nach seiner Hand, aber meine wollte es nicht ergreifen. Was sollte ich machen? ‚Wach auf, Bruder, wach auf!‘, rief ich dann ungeduldig. ‚Öffne deine Augen und schau mich wieder an!‘ Er wollte
einfach meine Stimme nicht hören. Ganz blaß saß meine weinende Mutter daneben. Sie nahm mich in ihre Arme und sagte leise voller Qual: ‚Mein liebster Junge, dein Bruder schläft nicht. Er ist tot. Er wird nie mehr erwachen.‘ Die traurigen Worte senkten sich in meine Seele. Ich spürte einen vorher unbekannten Schmerz. Und mein Herz löste sich in Tränen.”* Wenn unser Körper stirbt: ist dies auch unser Ende? Ein zuversichtliches Nein zieht sich durch die gesamte
Kulturgeschichte der Menschheit, und bis heute prägt es in allen Erdteilen die vorherrschenden Weltanschauungen. Sogar im “aufgeklärten” Mitteleuropa ist, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, noch mindestens jeder Dritte davon überzeugt, daß es für ihn auch nach seinem physischen Tod irgendwie weitergeht; er rechnet mit der Existenz einer vom Leib unabhängigen “Seele”, eines “Geistes” oder einer sonstigen Wesenheit, die den eigentlichen Kern seiner
Persönlichkeit ausmacht - und als die er unsterblich ist.** Fehlt es hier an Nachhilfeunterricht in Neurologie und physiologischer Psychologie? Haben unsere Humanwissenschaften nicht hinlänglich bewiesen, daß Bewußtsein, Empfindungen und Gefühle, Wahrnehmungen und Erinnerungen, Gedanken und jegliche anderen seelisch-geistigen Zustände nur einem funktionsfähigen Gehirn entspringen - und es voraussetzen? Keine Wahrnehmung, keine Handlung scheint ohne ein vermittelndes Nervensystem
möglich. Wenn durch Unfälle oder chirurgische Eingriffe, durch angeborene Defekte oder degenerative Erkrankungen wie das Alzheimer-Syndrom einzelne Teile des Gehirns geschädigt oder zerstört sind, fallen entsprechende mentale Funktionen aus. Werden gewisse Hirnareale durch elektrische Impulse oder chemische Substanzen gereizt, löst dies bestimmte seelisch-geistige Regungen aus. Setzt die Hirntätigkeit aus, erlöscht unweigerlich auch das Bewußtsein. In diesem materialistischen Bild der
hirngesteuerten Biomaschine scheint kein Platz für ein unkörperliches Etwas.Doch ist ein solches Menschenbild wirklich vollständig? Eine ganze Reihe von verblüffenden Phänomenen sprengen es anscheinend, darunter - Eindrücke von Sensitiven. Manche außersinnlich Begabten scheinen imstande, an uns ein oder mehrere “Auren”, “Energiekörper” und andere rätselhafte Aspekte wahrzunehmen. Diese folgen offenbar
Gesetzmäßigkeiten, die in keinem biologischen Lehrbuch stehen - und könnten einen unsterblichen Teil unserer selbst ausmachen. - Außerkörperliche Erfahrungen (Out-of-Body-Experiences, OBE). Das Gefühl, sich vom eigenen Körper
zu lösen und frei durch den Raum zu bewegen, wollen 15 bis 35 Prozent aller Erwachsenen schon mindestens einmal erlebt haben, wie Umfragen in den USA, Großbritannien und Australien belegen. Die Erfahrung scheint universell: Als eine amerikanische Psychologin in den siebziger Jahren Aufzeichnungen über mehr als 70 Völker ausserhalb des westlichen Kulturkreises auswertete, fand sie bei 95 Prozent von ihnen Schilderungen von OBEs. Schamanen und andere entsprechend ausgebildete Begabte sollen
imstande sein, solche “Astralreisen” willentlich anzutreten - und dabei Dauer und Ziel ihrer körperlosen Exkursionen zu steuern. (Siehe Das Große Buch vom Geistigen Heilen, Kap. “Schamanismus”.) Doch meist treten OBEs spontan auf: sei es in Träumen, mediativen und anderen
psychischen Ausnahmezuständen. (Siehe Veränderte Bewußtseinszustände.) - Nahtodeserlebnisse (Near-Death-Experiences, abgekürzt NDE). Mindestens jeder fünfte Sterbende - manche Studien gehen sogar von 67 Prozent aus - macht eine eigentümliche Erfahrung, in der zumeist mehrere der folgenden Elemente vorkommen: Er scheint sich von seinem physischen Leib zu lösen und von oben auf ihn herabzuschauen. Dann tritt er in eine tunnelartige Übergangszone ein. Je weiter er sie durchschwebt, desto stärker wird ein
weiß-goldenes, strahlendes Licht, das ihn mit Gefühlen von unendlicher Liebe, Frieden und Glück erfüllt. Er nimmt eine paradiesische Landschaft wahr. Und er begegnet verstorbenen Verwandten, religiösen Gestalten oder unbekannten Lichtwesen, mit denen er stumm kommunizieren kann; mancher Reanimierte gibt an, dass er von ihnen “zurückgeschickt” wurde, weil seine Zeit noch nicht gekommen sei. Ein “Lebensfilm” läuft ab, in dem er wie im Zeitraffer wichtige Stationen seines
Lebens nachvollzieht. Wenn Wiederbelebungsversuche erfolgreich sind, fühlt er sich meist abrupt in seinen Körper zurückgerissen. Solche Erlebnisse hinterlassen fast immer tiefe, nachhaltige Spuren: Die Angst vor dem Tod verschwindet, in der Gewissheit, daß es “danach” weitergeht. Die Betroffenen werden ruhiger, heiterer, gelassener, überhaupt psychisch stabiler - und religiöser. Allein in der Schweiz, so schätzen NDE-Experten, sollen 200.000 Menschen bereits eine solche
Nahtodeserfahrung gemacht haben. - Reinkarnationserinnerungen. Manche Menschen scheinen imstande, sich an frühere Leben in anderen Körpern zu erinnern - teils im Verlauf von “Rückführungen”, teils spontan, in psychischen Ausnahmezuständen. (Siehe Reinkarnation.) Es häufen sich Hinweise darauf, daß solche Erfahrungen nicht immer durch gängige
psychologische, parapsychologische oder physiologische Theorien befriedigend zu erklären sind; daß, zumindest manchmal, eine realistische Deutung näher liegt, im Einklang mit den subjektiven Eindrücken derer, die sie machen: als Begegnungen mit etwas Höherem in uns. Anmerkungen * Henry Pickering: The Ruins of Paestum, and Other Compositions in Verse, Salem 1822, S.
63. ** Nach dem 1983 in 20 Ländern durchgeführten “World Values Survey”. In den USA gaben sogar über 70 Prozent der Befragten an, von einem Leben nach dem Tod überzeugt zu sein. In Irland und Island, den weltweiten Spitzenreitern, fand sich eine Dreiviertelmehrheit dafür. |