“Befindet sich der Bildungsort des Liquors im Hypothalamus, im Hypophysenvorderlappen, in der mittleren Hirnhaut oder in den Adergeflechten der Hirnventrikel?" Auf Fragen wie diese, zitiert aus dem Aufgabenkatalog einer Heilpraktikerprüfung, mussten deutsche
Geistheiler bis vor kurzem gefasst sein, wenn sie beim zuständigen Gesundheitsamt die staatliche Lizenz zur Behandlung von Kranken erwerben wollten. Denn ohne ausreichende medizinische Kenntnisse, so befürchtete der Gesetzgeber, würden Nichtärzte zur "Gefahr für die Volksgesundheit". Erst ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2004 befreite Geistheiler vom Joch des Heilpraktikergesetzes, vorausgesetzt, sie treten nicht als Ersatzdoktoren auf, sondern betonen ihren Klienten gegenüber, dass sie weder Diagnosen stellen noch ärztliche Maßnahmen ersetzen können. Selbst unter Gesundheitsexperten, die frei von Aversionen gegen Geistiges Heilen sind, überwiegt seither ein mulmiges Gefühl: Wie kann ein medizinischer Laie kompetent und verantwortungsvoll schwerste medizinische Probleme angehen - fortgeschrittenen Krebs beispielsweise?
Auch unter Heilern gehen die Meinungen darüber, ob und wieviel ärztliches Wissen sie nötig haben, weit auseinander. Zweifellos kann es auch ihnen nicht schaden zu wissen, wo beispielsweise Nieren, Leber und Milz im Körper ihrer Patienten ihren Sitz haben, wie diese Organe arbeiten und welche Symptome darauf hindeuten, dass ihre Funktion gestört ist. Aber ist
es erforderlich? Macht es sie zu besseren Heilern? Brauchen sie es, um notfalls Schaden von ihren Klienten abzuwenden?
Ungefähr jedem zwanzigsten deutschen Geistheiler gelang es bisher, den Heilpraktikerschein zu erwerben - und zumindest von dieser Minderheit ist auf solche Fragen zumeist ein klares Ja zu vernehmen. Die einen argumentieren mit gesundheitlichen Risiken: Ein Patient, der mit einer ansteckenden Krankheit daherkommt, muss zum Arzt geschickt werden - was aber
voraussetzt, die Anzeichen zu erkennen, an denen sie sich verrät. Bei Asthmatikern, Diabetikern, Infarktgefährdeten, Epileptikern und anderen Risikogruppen können lebensbedrohliche Krisen auftreten - in solchen Fällen müsse ein Heiler wissen, dass er sofort den Notarzt zu rufen hat, und selbst Erste Hilfe leisten können. Die anderen argumentieren mit therapeutischer Effizienz: Nach ihrer Überzeugung leistet ein Geistheiler um so mehr, je klarere Vorstellungen er davon hat, wohin im Körper er "Energien" leitet. Wer eine Nierenfunktionsstörung behandelt, sollte seine Hand nicht dorthin legen, wo die Leber sitzt, so heißt es. Aus solchen Erwägungen heraus schließen die Lehrinhalte vieler Heilerschulen anatomische und physiologische Grundkenntnisse ein, und manche Heilerverbände sind dazu übergegangen, in ihre "Prüfungen" von Mitgliedern auch einen medizinischen Fragenkatalog einzubeziehen.
Beide Arten von Argumenten wollen den meisten Heilern allerdings nicht einleuchten - zurecht. Nach ihren Erfahrungen spielt es überhaupt keine Rolle, "wohin" sie Energie fließen lassen - diese sucht sich, wie von einer höheren Intelligenz gesteuert, anscheinend von selbst die Bereiche des Körpers aus, in denen sie am dringendsten benötigt wird. Geistiges Heilen, so betonen sie, dürfe nicht mit Psychokinese verwechselt werden, dem sogenannten "Uri-Geller-Effekt"; Heiler sind keine Löffelverbieger besonderer Art - allenfalls ändern sie, um im Bild zu bleiben, die energetischen Verhältnisse im gesamten Besteckkasten, mit schwer vorhersehbaren Folgen, auf die sie nur mittelbar Einfluß haben. Ein Geistheiler behandelt zum Beispiel eine Virusinfektion nicht, indem er mit magischen Strahlen auf Krankheitserreger zielt - sondern indem er die Selbstheilungskräfte des Infizierten insgesamt stärkt.
Und ist gesundheitlichen Risiken nicht ausreichend vorgebeugt, wenn Heiler sich nicht als Ersatzdoktoren gebärden - sondern Hilfesuchende in jedem Fall dazu anhalten, sich in ärztliche Behandlung zu begeben bzw. darin zu bleiben? In Lebensgefahr geraten können Hochrisikopatienten schließlich nicht nur in Heilerpraxen, sondern auch im Restaurant, auf dem Spazierweg, in der Straßenbahn. Warum sollte ein Handaufleger mehr über Notfallmedizin wissen müssen als ein Kellner, Spaziergänger oder Tramschaffner? Im übrigen stehen die meisten Heiler, ihrem Selbstverständnis als Werkzeuge einer göttlichen Kraft gemäß, Priestern weitaus näher als Ärzten. Und sollte einem Pfarrer zugemutet werden, erst die Heilpraktikerprüfung abzulegen, ehe er für kranke Gemeindemitglieder, die auf seinen Beistand hoffen, die Hände zum Gebet falten darf?
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Geistheiler - Der Ratgeber. |