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Das Placebo-Argument gegen Geistheilung (6)

  • Harald Wiesendanger
  • 22. Sept.
  • 8 Min. Lesezeit

”Geistiges Heilen ist bloß ein Placebo.” (Teil 6)


Ausführliche Auseinandersetzungen mit diesem und weiteren Argumenten in Geistiges Heilen - Das Große Buch, Geistheiler - Der Ratgeber, Heilen “Heiler”? und Fernheilen, Band 2.


8 Unter Ärzten, den sprichwörtlichen "Halbgöttern in Weiß", kommen charismatische Persönlichkeiten, mit großer suggestiver Ausstrahlung und einem Nimbus von Allwissenheit und Unfehlbarkeit, bestimmt nicht seltener vor als unter Geistheilern; ihr akademischer Titel, ihre Bildung, ihre Sprachgewandtheit, das  Inventar und Ambiente ihres Arbeitsplatzes verschaffen ihnen im Gegenteil einen gehörigen Autoritätsvorsprung. Nach wie vor rechnen 72 Prozent der deutschen Bevölkerung Ärzte zu jenen fünf Berufen, vor denen sie "am meisten Achtung" haben, wohingegen keine andere Berufsgruppe einen Prestigewert über 45 Prozent erreicht - nicht einmal Geistliche, Rechtsanwälte und Hochschulprofessoren. Müssten sich in Arztpraxen und Kliniken denn nicht viel öfter unfassbare "Heilwunder" ereignen, wenn dazu lediglich nötig wäre, Vertrauen und Zuversicht von Kranken zu stärken? Patienten von Ärzten glauben und hoffen schließlich nicht weniger stark als Patienten von Heilern; warum widerfahren ihnen denn nicht viel häufiger unerwartete Genesungen, falls es dazu lediglich einer Placebo-Reaktion bedürfte?


9 Wenn ein Langzeitpatient, dem kein Arzt helfen konnte, nach ein paar Fernheilsitzungen ein vermeintlich unheilbares Leiden los wird, so ist ihm reichlich wurscht, ob dafür ein "Placebo-Effekt" oder eher ein "Psi-Effekt" verantwortlich ist, der Mann im Mond oder Rumpelstilzchen. Hätte es etwa Rehders auf Dauer genesener Patientin Margarete darauf ankommen sollen? Hauptsache, gesund. Selbst wenn Geistiges Heilen nichts weiter wäre als ein Placebo, muss ihm zugestanden werden, dass es oft geradezu konkurrenzlos gut wirkt - auch und gerade dort, wo schulmedizinische Maßnahmen versagt haben, wie schon Rehder verblüfft miterlebte. Warum also darauf verzichten?


Aber büßt ein Placebo nicht zwangsläufig seinen Nutzen ein, nachdem es als solches durchschaut wurde? Schwindet dann nicht unweigerlich seine geheimnisvolle Kraft? Das muss nicht sein. Ein Kinofilm, ein Fernsehspiel, ein Theaterstück kann uns "wirklich" erregen und ganz in seinen Bann ziehen, auch wenn uns klar ist, dass man uns Wirklichkeit vorgaukelt. Trotzdem lassen wir uns darauf ein, und dazu drängen wir unseren zensierenden Realitätssinn zeitweilig zurück. Den Kunstgriff, dessen sich die menschliche Psyche dabei bedient, hat der Dichter Samuel Taylor Coleridge einmal als die "willentliche Aussetzung des Unglaubens" bezeichnet. Die Bereitschaft, an die Wirksamkeit einer Placebo-Behandlung zu glauben, "ist weniger eine Selbsttäuschung als eine konstruktive Selbstsuggestion", wie der Psychologe und Wissenschaftspublizist Heiko Ernst betont. "Wir können uns die heilsame Wirkung von 'wirkungslosen' Mitteln selbst verschreiben."29  Eben dies empfiehlt der US-amerikanische Psychiater Walter Brown von der Universität Providence, Richmond; einem Hypertoniker beispielsweise würde er ein Scheinmedikament ungefähr so ankündigen: “Sie haben die Wahl. Wir können ihnen einen klassischen Blutdrucksenker verschreiben. Das Mittel wird Nebenwirkungen haben. Wir können Ihnen aber auch diese Tabletten geben, die keinen Wirkstoff enthalten. Wir wissen, dass sie bei sehr vielen Patienten helfen, aber wie, das wissen wir nicht. Vermutlich regen sie die Selbstheilungskräfte des Körpers an. Wir werden den Erfolg kontrollieren. Sollten die Tabletten wider Erwarten nicht wirken, können Sie nach ein paar Wochen immer noch zum herkömmlichen Medikament übergehen.” Desillusionierung verhindert den Placebo-Effekt keineswegs, wie die englische Wissenschaftshistorikerin Anne Harrington von der Universität Oxford bestätigen kann. Sie weiß von Krebskranken und ihren Angehörigen, die ihre Ärzte in verzweifelten Briefen bitten, ihnen ein Placebo als letztes Mittel zu verabreichen.


10  Dass Geistheilern ausgerechnet von Ärzten aus dem "Placebo-Argument" ein Strick gedreht wird, ist im Grunde ein schlechter Witz. Denn in Wahrheit sind Placebo-Effekte bei jeglichen Heilweisen, auch den schulmedizinisch anerkannten und allgemein praktizierten, niemals auszuschließen. Experten schätzen, dass 30 bis 60 Prozent der Wirkung aller ärztlichen Maßnahmen auf den Placebo-Effekt zurückzuführen sind; gar von einem 99-Prozent-Anteil ging provokativ der Psychologe Hans-Jürgen Eyenck aus. Wenn der Einnahme eines Arzneimittels trotzdem eine Besserung folgt, dann weniger dank irgendwelcher hochpotenter pharmakologischer Inhaltsstoffe als vielmehr aufgrund positiver Erwartungen der Kranken, die sie wohlgemut schlucken, und ihrer Ärzte, die sie zuversichtlich verschreiben - und dabei unbewusst Placebos verabreichen. Bei jeder somatischen Therapie wirkt auch die "Droge Arzt" mit.


In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Rückblick auf die Medizingeschichte. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren die meisten von Ärzten verordneten Medikamente pharmakologisch inaktiv, wenn nicht gar schädlich, wie wir inzwischen wissen. Im 17. Jahrhundert riet ein weitverbreitetes Londoner Arzneibuch zu solch vorzüglichen Heilmitteln wie abgezogene Schlangenhaut, zermahlene Skorpione, Schwalbennester, Lunge von Füchsen, den Speichel von Fastenden, Mutterkuchen und Moos von den modernden Schädeln Gehenkter. Hundert Jahre später spottete der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (1694-1778): “Ärzte geben Medikamente, über die sie wenig wissen, in Menschenleiber, über die sie noch weniger wissen, zur Behandlung von Krankheiten, über die sie überhaupt nichts wissen.” Noch 1860 brachte der amerikanische Schriftsteller Oliver Holmes eine provokative Vermutung zu Papier: Würden die meisten damals verwendeten Arzneien "auf den Boden des Meeres versenkt, so wäre das um so besser für die Menschheit und um so fataler für die Fische".35 Generationen von Ärzten setzten überwiegend Placebos oder Schlimmeres ein, ohne sich darüber im klaren zu sein, und insofern ist "die Geschichte der medizinischen Behandlung bis in relativ neue Zeit die Geschichte des Placebo-Effekts", wie der amerikanische Psychiater und Medizinhistoriker A. Shapiro anmerkt. Doch wenngleich sie sich unwissentlich auf Placebos verließ, wahrte die Ärzteschaft doch Ruf und Ansehen als erfolgreiche Heilerprofession, woraus geschlossen werden darf, dass die Mittel ihrer Wahl im großen und ganzen wirksam waren.


Hat sich daran bis heute wirklich Wesentliches geändert? Üppig verdient wird mit therapeutischen Illusionen unter anderem auf dem Pharmamarkt. Allein in Deutschland soll ein jährlicher Bruttogewinn von sechs Milliarden Mark mit Arzneimitteln erzielt werden, deren einzig gesicherter Effekt in der Bewegung der Umsatzkonten der Hersteller besteht. Über 250 Millionen mal pro Jahr verschreiben Ärzte hierzulande Medikamente, deren klinischer Wirksamkeitsnachweis zumindest strittig ist, wenn nicht gar fehlt; das entspricht 34 Prozent des gesamten deutschen Arzneimittelmarkts. Wie selbst das Bundesgesundheitsministerium einräumt, werden in Deutschland derzeit 16.000 Medikamente verkauft, für die "kein therapeutischer Nutzen nachgewiesen ist"; das entspreche mehr als einem Drittel aller angebotenen Arzneimittel. Im Verdacht von teuren Massenplacebos stehen etwa durchblutungsfördernde Mittel, die vor allem ältere Menschen in der Hoffnung schlucken, dadurch Wahrnehmung und Gedächtnis zu verbessern. Auch bei Gallenwegsmitteln werden wesentliche therapeutische Effekte bezweifelt, ebenso bei Leberschutzpräparaten, die strikte Alkoholabstinenz ohnehin weitgehend erübrigen würde; Schlankheitsmittel - von "Xenical" bis hin zu einem Inhalierstift ("Riech dich schlank. Dreimal riechen, 200 Kalorien weg") verschlanken absolut zuverlässig allenfalls die Geldbörsen der Käufer. Auch auf einen Großteil der urologischen Medikamente richten namhafte Fachleute den Placebo-Verdacht. Und nach wie vor stehen überzeugende klinische Nachweise dafür aus, dass Rheumasalben der Wärmeflasche entscheidend überlegen sind; dass Venenmittel tatsächlich Krampfadern entlasten und Thrombosen vorbeugen; oder dass Tropfen gegen den Grauen Star, sogenannte "Antikataraktika", wirklich eine Augenoperation erübrigen können. Bei Antidepressiva, so vermuten unabhängige Arzneimittelforscher neuerdings, beruhen drei Viertel der Wirkung auf dem Placebo-Effekt; höchstens ein Viertel ist dem Wirkstoff zuzuschreiben. Vermutlich wirkt jedes dritte Medikament, das wir in Apotheken kaufen können, im Grunde gar nicht spezifisch gegen jene Beschwerden, derentwegen es rezeptiert wird. Wenn es dennoch hilft, dann weniger dank irgendwelcher chemischer Ingredienzen als vielmehr aufgrund positiver Erwartungen der Kranken, die es wohlgemut schlucken, und ihrer Ärzte, die es zuversichtlich verschreiben.


Nicht einmal bei chirurgischen Eingriffen, den scheinbar "ungeistigsten" aller ärztlichen Interventionen, sind Placebo-Reaktionen auszuschließen - ohne dass wir auf die Idee kämen, sie allein deswegen pauschal in Misskredit zu bringen. So machte in den fünfziger Jahren ein neues operatives Verfahren Furore, das Schmerzen beseitigen sollte, die im Laufe einer koronaren Herzerkrankung auftreten; als Meilenstein im Kampf gegen die Arterienverkalkung wurde es bei seiner Einführung gefeiert. Dazu wurde eine Arterie im Brustraum, die mammaria interna, umgeleitet; dadurch sollte dem Herzen mehr Blut zugeführt werden. Die Ergebnisse waren vielversprechend: Bei 70 Prozent der auf diese Weise Operierten ließen die Schmerzen tatsächlich nach, und die Herzfunktion verbesserte sich. Bis 1968 wurden allein in den Vereinigten Staaten über zehntausend derartige Eingriffe durchgeführt. Dann wurden Zweifel an der physiologischen Grundlage dieser Heilerfolge laut. Eine Kontrollstudie fand statt, bei der koronar Herzkranke ohne ihr Wissen nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Während Patienten der einen Gruppe nach der neuen Technik operiert wurden, erhielt die andere Gruppe reine Placebo-Operationen, die entsprechende Arterie wurde nicht angerührt. Dabei stellte sich heraus, dass sich die Erfolgsquoten in beiden Gruppen nicht im mindesten unterschieden: Bei beiden war eine deutliche Schmerzreduktion sowie eine verbesserte Herzfunktion feststellbar. Jener ehrfurchtgebietende Zungenbrecher namens "Koronarchirurgie mit Bypass mit perkutaner transluminaler koronarer Angioplastie und mit Koronarkatheter" stellte sich somit als unnötig blutiges Placebo heraus.


Jedes Jahr unterziehen sich eine Viertelmillion Amerikaner, die an Osteoarthritis leiden, einer orthopädischen Routineeingriff: Sie lassen sich das schmerzende Kniegelenk aufschneiden, den Abrieb des Knorpels ausspülen und diesen mit einer Fräse glätten. Wie placebofrei nutzt dieser Eingriff? Der amerikanische Arzt J. Bruce Moseley forschte in einem sufsehenerregenden Experiment nach, dessen Veröffentlichung 2001 in Fachkreisen heftige Diskussionen auslöste40: Nachdem Patienten am Tag des vorgesehenen Eingriffs in steriler Kleidung in den Operationssaal gerollt worden waren, entschieden per “Ja” oder “Nein”-Kärtchen aus versiegelten Briefumschlägen per Zufall, ob eine konventionelle Arthroskopie stattfand - oder eine Scheinbehandlung. Im zweiten Fall wurde dem Betreffenden zunächst ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht. Dann nahm Moseley ein paar oberflächliche Schnitte ins Knie vor, damit hinterher eine Operationswunde zu sehen war. Um den nur leicht narkotisierten Patienten zusätzlich zu beeindrucken, wurde sein Bein gestreckt und gedehnt; schließlich goss ein Assistent Wasser in einen Behälter, was sich so anhörte, als spüle er gerade ein Gelenk aus. Noch zwei Jahre später waren fast alle Scheinoperierten mit dem Eingriff hochzufrieden. 

Und lauert der Placebo-Effekt nicht allgegenwärtig in jeder ärztlichen Sprechstunde? Nichts fördert Zutrauen mehr als Sozialprestige - und kein Beruf genießt in Deutschland größeres Ansehen als der des Arztes. Entsprechend großen Respekt haben Patienten vor ihrem Doktor, sie vertrauen ihm. Sie sind von seinem Titel und seinem Fachjargon beeindruckt, aber auch von seinem Schweigen; selbst jedem Stirnrunzeln, jedem Räuspern, jedem stummen Kopfnicken messen sie Bedeutung bei. Sie sind beruhigt, wenn der Doktor ihre Beschwerden durch Diagnose-Latein benennt und zu wissen scheint, was ihnen fehlt. Sie bestaunen die Fachliteratur in seinen Bücherregalen und all die technischen Apparate um ihn herum, mit denen er so sicher hantiert. All dies fördert doch immens die Erwartung des Patienten, geheilt zu werden - ist also "Placebo".


Damit soll keineswegs abgewertet werden,  was Ärzte tun, im Gegenteil. Bei Patienten segensreiche Placebo-Reaktionen auszulösen, ist eine hohe ärztliche Kunst, die unverdientermaßen beargwöhnt wird.

Dass solche Reaktionen überhaupt vorkommen, müsste bei Medizinforschern und allen in Heilberufen Tätigen enthusiastische Aufmerkamkeit wecken; stattdessen gelten sie in der Schulmedizin weithin als Ärgernis, das es herauszufiltern und auszuschalten gilt, wenn der Wert einer therapeutischen Maßnahme beurteilt werden soll. Für viele Ärzte haben Placebos etwas Anrüchiges, Unseriöses; ihr Einsatz scheint auf Tricks und Täuschungen zu beruhen, insofern auf Quacksalberei hinauszulaufen. (Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatte “Placebo” die denkbar geringschätzige Bedeutung eines Schmeichlers, Kriechers und Schnorrers. (Siehe Rupert Sheldrake: Seven experiments that could change the world - a do-it yourself guide to revolutionary science, New York 1995, Kapitel 7, Abschnitt “The Placebo Effect”.) Manche Ärzte verabreichen deswegen, aus ethischen Gründen, niemals Placebo-Präparate. Solche "unechten" Heilmittel werden von oben herab behandelt, wie eine vorsintflutliche Requisite, derer man sich schämen muss. Auch gelten Placebo-Effekte als "unecht": Wenn es beispielsweise Schmerzpatienten, nachdem sie ein Placebo eingenommen haben, besser geht, wird diese an sich begrüßenswerte Reaktion gewöhnlich als Indiz dafür gedeutet, dass die Schmerzen ohne physiologische Grundlage, also "bloß eingebildet" waren. Schon in einem medizinischen Wörterbuch aus dem Jahre 1811 wird "Placebo" abfällig definiert als "Bezeichnung für jede Medizin, die eher geeignet ist, einen Patienten zufriedenzustellen, als ihm zu nützen." Aber wieso soll es nicht nützen dürfen, indem es zufriedenstellt?


In Wahrheit spricht jeder Mensch auf Placebos an - sofern sie ihm unter Bedingungen verabreicht werden, die seinen Glauben daran stärken. Und das ist gut so: Denn die Macht des Glaubens, Selbstheilungskräfte zu wecken, ist eine weithin unterschätzte therapeutische Größe; sie anzuerkennen und zu nutzen, statt darauf aus zu sein, sie als etwas "Unwirkliches" auszuschalten, würde die Humanmedizin nicht nur effektiver machen, sondern letztlich auch humaner. Der Illusion, Placebo-Reaktionen ausschließen zu müssen, kann nur erliegen, wer den Geist für unwirklich hält oder ihm jede Verbindung zum Körper abspricht - ihn als "Gespenst in der Maschine" betrachtet, wie der englische Philosoph Gilbert Ryle einmal anmerkte. Dagegen führen die Erfolge von Heilern nebenbei vor Augen, wie innig sich Geist und Körper auf Bahnen durchdringen, welche die Wissenschaft erst noch nachzeichnen muss. "Als praktischer Arzt", so erklärt der amerikanische Medizinphilosoph Andrew Weil, "habe ich keinerlei Interesse, eine Placebo-Reaktion bei meinen Patienten zu eliminieren. Placebos einzusetzen, die mittels eines psychischen Mechanismus die inneren Heilkräfte freisetzen, ist nicht Quacksalberei oder Täuschung, sondern psychosomatische Medizin in ihrer besten Form - schlicht und einfach gute Medizin, gleich nach welchem Maßstab." Insoweit sind Heiler oft die besseren Ärzte.

 
 
 

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