Dass chronisch Berufsunzufriedene weder aufs Zeitunglesen noch auf neue Bekanntschaften verzichten sollten, lehrt die erstaunliche Biographie der Dolores
Krieger. Bis Anfang der siebziger Jahre war sie eine junge amerikanische Krankenschwester, die wie abertausend andere am frustrierenden Pflegealltag in den High-Tech-Gesundheitsfabriken der westlichen Schulmedizin litt - aber nicht wusste, was sie daran ändern konnte. In dieser Krise hätten manche gekündigt. Doch Dolores Krieger ging einen anderen Weg, und dabei wurde eine Heilerin zu ihrer wichtigsten Begleiterin - nicht irgendeine, sondern die überzeugte Theosophin Dora Van Gelder Kunz, die
ab 1975 die Präsidentschaft der Theosophischen Gesellschaft von Amerika übernehmen und bis 1987 nicht mehr abgeben sollte. Durch Kunz, nach eigenen Angaben "in fünfter Generation sensitiv", lernte Krieger Esoterisches Heilen kennen, hörte von der Lebensenergie Prana, von Auren und Chakren - Kunz ist Autorin etlicher Bestseller darüber - und wähnte nun schlagartig begriffen zu haben, worin wahre Heilung besteht, was sie ermöglicht und wie vorzugehen ist, um sie zu
fördern.
Bei aller Begeisterung war Dolores Krieger aber Realistin genug, um sich darüber im klaren zu sein: Eine solche Heilweise hatte im Klinikbetrieb keine Chance, solange den Ärzten dort nicht gezeigt werden könnte, dass es dafür eine wissenschaftliche Grundlage gab. Aber woher nehmen? Da stieß Krieger zufällig auf einen Zeitungsartikel über den ungarischen Heiler Oskar Estebany, dem es gelungen sein soll, in Experimenten an der Universität Montreal, Kanada, durch bloßes
Handauflegen Tiere und Pflanzen verblüffend zu beeinflussen. Unter anderem, so las sie, produzierten Pflanzen erheblich mehr Chlorophyll, nachdem sie mit Wasser gegossen wurden, das der Heiler zuvor in bloßen Händen gehalten hatte.
Fasziniert nahm Frau Krieger Kontakt zum Leiter dieser Versuche auf, dem Biochemiker Dr. Bernard Grad, schloss sich seiner Forschungsgruppe an und begann mit eigenen Experimenten. Dabei konzentrierte sie sich zunächst auf einen chemischen Verwandten von
Chlorophyll, nämlich Hämoglobin, jenes Atmungspigment, das den roten Blutkörperchen ihre Farbe gibt. Dieser Blutfarbstoff hat die Funktion, in den Atmungsorganen Sauerstoff aufzunehmen, an die Orte des Verbrauchs im Körpergewebe zu schaffen und dort abzugeben; zugleich nimmt es Kohlendioxid auf und führt es den Atmungsorganen zu, die es nach außen freisetzen. Wäre Estebany imstande, den Hämoglobinspiegel von Menschen günstig zu beeinflussen, indem er ihnen eine Viertelstunde lang die Hände
auflegte? In drei Versuchen, an denen insgesamt 183 Testpersonen teilnahmen - 75 von ihnen bildeten unbehandelte Kontrollgruppen -, war der Heiler jedesmal erfolgreich.
Verfügen nur Ausnahmetalente wie Estebany über eine solche Gabe? Oder steckt die gleiche Fähigkeit latent in jedem Menschen? Wenn ja, lässt sie sich unter Anleitung entfalten? Um das herauszufinden, unterwies Dolores Krieger 32 Krankenschwestern im Handauflegen. Dann wurden auch sie dem Hämoglobin-Test unterzogen -
erneut mit Erfolg, wie es schien. Nun stand für Dolores Krieger fest: Diese einfache, leicht zu erlernende und gefahrlose Methode könnte die Krankenpflege wesentlich bereichern, vor allem humaner machen. Sie begründete, teilweise in Zusammenarbeit mit Dora Van Gelder Kunz, die Schule des Therapeutic Touch (TT, «Therapeutische Berührung»): ein dem Handauflegen eng verwandtes Diagnose- und Behandlungssystem, dessen Grundlagen sie erstmals 1979 in einem vielbeachteten Buch gleichen Titels vorstellte. "Therapeutisches Berühren", das manchmal von einer sanften Massage begleitet wird, besteht im Kern aus vier aufeinanderfolgenden Schritten:
1. Das "Zentrieren" (centering),
wobei sich der Heiler meditativ auf den jeweiligen Patienten "einschwingt" und sich mit dessen "Energieebene" zu verbinden sucht.
2. Das "Einschätzen" (assessment). Dabei fährt der Heiler mit seinen Händen den Körper des Patienten entlang, um dabei Anzeichen für energetische Ungleichgewichte und Blockaden zu erfühlen, die sich in Empfindungen von Wärme und Kälte, einem Prickeln, Druck, Elektrisieren oder Pulsieren bemerkbar machen sollen.
3.
Das "Glätten des Energiefelds" (unruffling the field), indem mit bloßen Händen über die zu behandelnde Stelle gestrichen wird, um "gestaute" Energie "abzuleiten". Ob solche "Blockierungen" erfolgreich beseitigt worden sind, soll sich daran zeigen, dass sich der Patient zunehmend entspannt; seine Stimme wird ruhiger, er atmet langsamer und tiefer, und seine Haut sieht besser durchblutet aus. 4. Die "Energieübertragung" (transfer).
Dabei lässt der TT-Anwender Heilenergie in die betroffenen Körperpartien fließen, indem er seine Hände darüberhält.
Im Sommer 1992 führten Krieger und Kurz den allerersten TT-Kurs für Krankenschwestern durch. Daraus hat sich allmählich ein einheitliches Ausbildungskonzept herausgeschält: Ein zwölfstündiger Grundlagenkurs, der mit einem Zertifikat endet, kostet zwischen 250 und 300 US-Dollar. Daran schließt sich ein einjähriges Praxisjahr an, in dem TT-Anwender unter Anleitung eines
erfahrenen "Mentors" arbeiten, der selber mindestens 30 Stunden Unterweisung in TT-Theorie und 30 Stunden beaufsichtigte Praxis vorweisen können muss; zwischendurch besucht er einen Intensivworkshop. Dringend empfohlen wird ein anschließendes "Fortgeschrittenentraining", das mehrere tausend Dollar kosten kann. Um es zum TTT ("Therapeutic Touch Teacher") zu bringen, muss ein Anwärter mindestens fünf Jahre lang zweimal pro Woche praktiziert haben, zwölf Monate lang
von einem "Mentor" betreut worden sein und zwei Fortgeschrittenenkurse absolviert haben.
Die Theorie hinter der TT-Praxis war, unter Kunz´ Einfluss, in Kriegers frühesten Veröffentlichungen6 noch deutlich geprägt von theosophischer Gesundheitsmetaphysik. Dem Bemühen, TT in den kühlen Tempeln der Schulmedizin hoffähig zu machen, war dies alles andere als förderlich. Der anhaltenden Kritik daran trug Krieger pragmatisch Rechnung: In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
verabschiedete sie sich vom "Prana", um sich stattdessen etwas vermeintlich Wissenschaftlicheres zu eigen zu machen: das Konzept des "Menschlichen Energiefelds" (Human Energy Field), wie es eine angesehene wissenschaftliche Expertin für Krankenpflege, Martha Rogers, gerade in die akademische Fachwelt einzuführen versuchte. Wie Rogers postulierte, hat nicht nur jeder von uns ein Energiefeld, sondern ist eines; es erstrecke sich über die Grenzen des physischen Leibs
hinaus. Also, folgerte Krieger, müsste es auch beeinflusst werden können, ohne den Körper zu berühren, was 1982 eine Doktorarbeit von Janet Quinn zu belegen schien, die TT "berührungslos" bei stationär behandelten Herzkranken einsetzte, welchen Angstzuständen zu schaffen machten. Seither bevorzugen die meisten "Therapeutischen Berührer" die non-contact-Variante, in der Überzeugung, sie sei nicht minder wirksam. Insofern die Hände des Heilers dabei fünf
bis zehn Zentimeter Abstand vom Körper des Patienten halten, findet durchaus eine Fernbehandlung statt - "nah" und "fern" sind relativ.
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