Am Ende
eines Monopols
Nicht nur theologische, auch strategische Erwägungen sprechen dafür, sich für Geistiges Heilen zu öffnen. Zwar gibt es in Deutschland immer noch 26,5 Millionen Katholiken und 26,2 Millionen Protestanten: eine absolute Bevölkerungsmehrheit, zu der noch 1,5 Millionen Christlich-Orthodoxe, 382'000 Neuapostoliker, 164'000 Zeugen Jehovas und mehrere zehntausend Mitglieder christlicher Splittergruppen kommen. Doch sprechen diese Zahlen nicht eher für die
Zählebigkeit von Traditionen als für die Christlichkeit der hiesigen Bevölkerung? Nur noch jeder vierte Deutsche betet täglich, 27 Prozent tun es nie. Vor vierzig Jahren besuchten noch 73 Prozent regelmäßig den Gottesdienst - heute tun es nur noch zehn Prozent der Katholiken und vier Prozent der Protestanten. In der nachlassenden Bedeutung von Gebet und Kirchgang spiegelt sich der Niedergang praktizierten Christentums allgemein. Zwar gehören nach wie vor vier von fünf Westdeutschen einer der
beiden großen christlichen Kirchen an. Aber diese Mitgliedschaft verkommt zunehmend zur Formsache; immer seltener, immer schwächer prägt sie den Alltag. Nur noch 56 Prozent erklären, an den biblischen Gott zu glauben. Andere grundlegende christliche Bekenntnisse - etwa der Glaube an Jesus als den von Gott gesandten Erlöser, an Himmel und Hölle, die Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht - finden schon keine Mehrheiten mehr. Zwei Drittel erklären die Religion für "ziemlich"
oder "völlig unwichtig" in ihrem Leben. Sich öffentlich zu seinem Christsein zu bekennen, gilt inzwischen weithin als eher peinlich; schon warnen Leitfäden guten Benehmens davor, den Glauben überhaupt noch zum Gesprächsthema zu machen.
Die größte Pilgerfahrt der Christenheit, die am erlösenden Ende von Karol Wojtilas qualvollem Leiden und Sterben Anfang April 2005 in Gang kam, widerlegt nicht den ernüchternden Befund, sondern passt zu ihm. Die verkümmerte Form von
Frömmigkeit, die sieben Millionen gen Rom ziehen und Milliarden Trauer-TV marathongucken ließ, lebt weniger aus täglich gelebtem Glauben, sondern entzündet sich zunehmend an der unerhörten Begebenheit, an außeralltäglichem Spektakel. Von Medien eine kurze Weile entfacht, reißt sie ebenso kurzzeitig mit, wenn Terroristen vollbesetzte Passagierflugzeuge in Wolkenkratzer rasen lassen oder eine Monsterwelle 300’000 Menschen in den Tod reißt. Je stärker sich der Alltag säkularisiert, desto
wichtiger werden religiöse Riten, wenn er ins Wanken gerät, wenn das Unerhörte nach Formen der Bewältigung sucht. Mit Rechristianisierung hat das herzlich wenig zu tun.
Mehr noch als der christliche Glaube befinden sich die Institutionen, die ihn tragen, in der Krise. Als unlängst die Unternehmensberatung McKinsey in ihrer großangelegten Online-Erhebung Perspektive Deutschland nach der Glaubwürdigkeit deutscher Institutionen fragte, landeten die Kirchen weit abgeschlagen hinter dem
ADAC, Greenpeace oder der Bundeswehr; magere 17 Prozent gaben an, der evangelischen Kirche uneingeschränkt zu vertrauen, bei der katholischen Kirche waren es gar nur noch elf Prozent - niederschmetternd für eine Einrichtung, die buchstäblich von ihrer Glaubwürdigkeit lebt. Gotteshäuser, in denen zwischen ein paar wenigen hohen Feiertagen gähnende Leere herrscht, werden reihenweise geschlossen, müssen vermietet werden, stehen zum Verkauf. Aus Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden werden
Kreuze verbannt, der Religionsunterricht zunehmend zur inter- und überkonfessionellen Werteerziehung; ein dramatisch sinkendes Kirchensteueraufkommen zwingt zu Einschnitten und Einschränkungen, die vor kurzem noch undenkbar waren. 130’000 Menschen treten pro Jahr aus der Kirche aus, die meisten mit einem Seufzer der Erleichterung, der Umarmung durch einen schwerfälligen, dogmenstarren Koloss entkommen zu sein, der nahe daran ist, wie einst die Dinosaurier unter dem eigenen Gewicht
zusammenzubrechen. Große Teile unserer Gesellschaft sind offenkundig dabei, Abschied von Gott und seinem Bodenpersonal zu nehmen, nicht im Groll, sondern eher mit Gleichmut. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend leben wir in einem heidnischen Land mit christlichen Restbeständen, wie der katholische Theologe Karl Rahner schon 1984 illusionslos befand. "Die Nachchristlichkeit unserer Weltlage", urteilte der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk zwei Jahrzehnte später, "ist eine
historische Gegebenheit". In ihrem Angesicht wirken viele Kirchenrepräsentanten schreckensstarr und verzagt - so als hülfe, inmitten der Ruinen einstiger Macht, nur noch Psalm 69: “Rette mich, Gott, die Wasser reichen mir bis an die Kehle. Eingesunken bin ich in tiefem Schlamm, es findet mein Fuß keinen Grund. Ich kam in die Tiefen der Wasser, die Fluten strömen über mich.”
Unter den zahlreichen Diagnosen für diesen kläglichen Niedergang, die auf kirchlichen Tagungen
ratlos übereinandergetürmt werden, scheint mir zumindest eine ins Schwarze zu treffen: Noch immer wollen Kirchenobere nicht wahrhaben - geschweige denn sich darauf einstellen -, dass sie ihr Sinngebungsmonopol unwiderbringlich eingebüßt haben, zumindest in der Ersten Welt. Mit ihrem Dienstleistungsangebot in Sachen seelischer Erbauung, Gemeinschaftserfahrung und Ritualversorgung, der Vermittlung von Werten und Vorbildern bewegt sich die Kirche, ob sie will oder nicht, inzwischen auf einem
heiß umkämpften Markt, auf dem sie als ein Anbieter unter anderen wahrgenommen - und einem nüchternen Leistungsvergleich unterzogen wird. Den Mühseligen und Beladenen, unter ihnen mehr als zwanzig Millionen chronisch Kranke allein in Deutschland, bietet sie in erster Linie erbauliche Worte, während Geistheiler mit warmherzigen Taten aufwarten. Unerträglich findet diesen Notstand Pfarrer Jürgen Fliege: “Was ist eine Religion wert, die sich um den Leib und seine Qual herumdrückt und auf
ein ewiges Später verweist? Ich antworte: Nichts!” Empathie und Ausstrahlung vieler Kirchenmänner, vom Pfarramt bis zum Kardinalssitz, werden zudem häufig als unterentwickelt empfunden - die Heilerszene hingegen kann mit einer ganzen Reihe von charismatischen Persönlichkeiten aufwarten, deren Wärme, Weisheit und Heilbegabung Menschen in ihren Bann ziehen. Immer mehr gesundheitlich Angeschlagene wollen ihr Leid nicht bloß religiös gedeutet, sondern tatkräftig gelindert wissen. Weitaus
verbreiteter als das Bedürfnis nach tiefschürfenden Gedanken ist der Hunger nach ergreifenden Empfindungen und Emotionen - Geistiges Heilen bietet sie. "Erst kribbelte es intensiv, dann wurde mir plötzlich ganz heiß", "Es war so, als stünde ich unter Strom", "Es durchzuckte mich wie ein Blitz", "Es fühlte sich so an, als wogten unsichtbare Wellen durch mich hindurch", "Ich vibrierte am ganzen Körper": In solche Worte fassen viele Patienten, was ihnen bei Geistheilern bisweilen widerfährt, während sie behandelt werden. Sie schildern außergewöhnliche, nie zuvor erlebte Empfindungen von Wärme oder Kälte, von Schwere, von einem Kribbeln oder Pulsieren, von einem Durchströmtwerden oder dem sanften Druck einer unsichtbaren Kraft, wie mehrere Umfragen seit den sechziger Jahren ergaben. Um mit dem großen Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung zu sprechen: "Des Intellektualismus überdrüssig, will man von Wahrheit hören, die nicht enger macht, sondern weiter, die nicht verdunkelt, sondern erleuchtet, die nicht an einem abläuft wie Wasser, sondern ergreifend bis ins Mark der Knochen dringt." All das kann Geistiges Heilen bieten. Es in den Gemeindealltag einzubeziehen, wäre deshalb klug. Ungute Gefühle, sich damit dem Zeitgeist anzubiedern, werden von mehreren Autoren dieser Anthologie besänftigt: Die Reform, für die sie plädieren, führt die Kirche keineswegs von ihren Wurzeln fort, sondern schnurstracks zu ihnen zurück - im Gegensatz zu mancherlei sonstigen, eher peinlichen Verrenkungen, um die Leute “dort abzuholen”, wo sie in Kirchenkreisen bevorzugt vermutet werden. Kuriositäten wie Motorrad-Gottesdienste für Biker (“Mogo”), “Berg-Gottesdienste” (“Dem Himmel so nah”), die Aktion “Vaterunser per SMS”, Raver-, Inlineskater-und Fußball-Messen, “Lappen-Gottesdienste” für Führerscheinneulinge, ein bißchen Gitarrenzupf und geschlagzeugtes Dschingderassabäng neben dem Altar stehen nicht für Maßschneiderei, sondern für Beliebigkeit von der Stange, der Kurt Tucholsky schon 1930 die richtige Diagnose stellte: “Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappend laufen sie hinter der Zeit her, auf dass ihnen niemand entwische.” Statt in derlei PR-beraterinspirierte Hektik zu verfallen, könnten sich die Kirchen konsequent auf den Heilungsauftrag Jesu zurückzubesinnen - und ein Gutteil ihrer Daseinsängste würden sich verflüchtigen.
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