8 Hinter dem Horror diaboli, ebenso wie hinter Esoterophobie, versteckt sich bei Kirchenvertretern nach meinen Eindrücken häufig ein weiteres, besonders schwer einzugestehendes Motiv: die Angst
vor Nähe. Um Hand aufzulegen, muss der Heiler Distanz überwinden, dem Bedürftigen nahekommen, den Fremden wahrhaftig und nicht nur in Lippenbekenntnissen zum Nächsten machen - körperlich und emotional. Im übrigen wird, über das Behandlungsritual hinaus, in den meisten Heilerpraxen auch anderweitig reichlich Nähe hergestellt: Ein ums andere Mal werden Hände ergriffen, beruhigend gehalten, aufmunternd getätschelt, manchmal sogar sanft gestreichelt; ab und zu kommt es zu innigen Umarmungen;
Blicke voller Vertrauen, die Helfer und Hilfesuchende füreinander öffnen, werden gewechselt - und ausgehalten. Solche Formen der Intimität können befremden. Generationen von Priesterseminaristen haben sie weitgehend verlernt - verkopft, entemotionalisiert von Professoren, die sie zu ihrer Berufung hin vorzugsweise den vermeintlichen Königsweg der reinen Vernunft beschreiten ließen. Dieser Ausbildungsweg prägt, begünstigt und ermutigt Charaktere, die eher zusammenzucken als lächeln, wenn sie
angefasst werden, und jede Berührung als peinlichen Angriff auf ihre Intimsphäre empfinden. Und so kennzeichnet Abstand den Gottesdienst von heute: der Pfarrer fast immer meterweit weg von seiner Gemeinde, die Gemeindemitglieder kontaktfrei nebeneinander stehend, kniend, sitzend - und verlegen um Verzeihung bittend, wenn versehentlich eine Schulter die andere touchiert. Eine meiner Mitautorinnen, Pfarrerin Esther Suter, begegnete dieser Art der Beklemmung in kirchlichen Kreisen mehr als
einmal, als sie auf ihrem Entwicklungsweg daranging, "die rein verbale Ebene des Predigens zu verlassen. Die Angst vor Berührung, auch als Segenshandlung, kam indirekt zum Ausdruck durch die Angst vor Magie. (...) Ist es letztlich eine Angst, Kontrolle abzugeben?" Das richtige Rezept dagegen bringt mein Hendrik Herr, Mitautor meiner Anthologie Wie Jesus heilen, auf den Punkt: "Wenn unsere Hand aber in Gottes Hand liegt, dann gibt es keinen Grund, vor der Berührung des Anderen zurückzuschrecken, egal, wie ansteckend, bedrohlich oder unansehnlich die Situation sein mag." Ist Nähe nicht eine natürliche Ausdrucksform jener Liebe, die in ihrer reinsten Form
zu den Wesensmerkmalen Gottes gehört?
Aus all diesen Gründen können immer mehr Christen über die reflexhaften Abwehrreaktionen gewisser kirchlicher Kreise nur fassungslos den Kopf schütteln. Sie denken nicht daran, sich bange machen zu lassen. Denn oftmals erleben sie Geistiges Heilen als praktisches Beispiel selbstloser Nächstenliebe und Güte, Mitleid und Barmherzigkeit - von Rachmones, wie sie der Wiener
Theologe Adolf Holl in seinem Essay in Wie Jesus heilen allen helfenden Berufen ans Herz legt -, vollbracht von Mitmenschen, deren tiefe Frömmigkeit und Demut manchem Priester alle Ehre machen würde.
In Abgrenzung von den Ausgrenzern
Eine wachsende Zahl von Christen - einfache Laien, aber auch Pfarrer und Theologen - weigert sich, sich für Abgrenzungsgefechte einspannen zu lassen. Immer mehr Gläubige lassen sich, wenn sie vermeintlich unheilbar erkranken, guten Gewissens auf Geistheiler ein - und erleben dort mitunter mehr liebevolle Zuwendung, als ihnen je in ihren Gemeinden zuteil wurde; indem sie das "Wunder" der Heilung am eigenen Leib erfahren, finden viele zu tiefem Glauben zurück. Immer mehr
Religionswissenschaftler sperren sich dagegen, Geistiges Heilen in Bausch und Bogen zu dämonisieren, gewichten Jesu Heilungsauftrag neu, würdigen den Nazarener als begnadeten Therapeuten; gegenüber der Esoterikszene, in der sich die meisten Heiler bewegen, plädieren sie wie Manfred Josuttis dafür, sich einer "polemischen Pose" zu enthalten, "einseitige Verketzerungen und pauschale Verfemungen durch klärende Wahrnehmungen abzulösen". Und immer mehr Pfarrer öffnen, mit oder
ohne den formellen Segen höherer Instanzen der Klerikalbürokratie, undogmatisch ihre Gotteshäuser für Heiler und Heilzeremonien, beziehen Handauflegen in Gemeindearbeit, Krankenhausseelsorge und Altenpflege ein. "Kommt zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen!": Dieses Jesus-Wort stand als Motto auf Handzetteln, mit denen Hansruedi Felix auf jene aufsehenerregenden Veranstaltungen aufmerksam machte, die er seit September 1995 -
damals noch Pfarrer in Basel - in der reformierten Offenen Kirche Elisabethen anbot. Angekündigt wurde "Segnung und Handauflegung zur seelischen und körperlichen Unterstützung und ganzheitlichen Genesung durch HeilerInnen, die sich als VermittlerInnen der göttlichen Kraft verstehen und notleidenden Menschen durch Handauflegung Hilfe anbieten. Keine Voranmeldung." Um wöchentlich 30 bis 60 Hilfesuchende kümmerten sich, an jedem Donnerstag von 14 bis 18 Uhr, jeweils vier von insgesamt
neun Heilerinnen. Viele, die kamen, erfuhren Linderung - doch "Wunderheilungen" fanden nicht statt, wie Pfarrer Felix einräumt; wären sie geschehen, so hätte er über sie möglichst Stillschweigen bewahrt; denn traditionelle Wallfahrtsreklame ist ihm ein Greuel. Er wollte "zur Versöhnung zwischen Kirche und Heilungsbewegung beitragen", nichts weiter. In den Heilerinnen sieht der Geistliche Werkzeuge Gottes: "Auch ein Arzt kann nicht heilen. Er kann mit seinem
wissenschaftlichen Instrumentarium lediglich dahingehend wirken, dass die Heilungskräfte im Patienten aktiv werden. Dasselbe tut die Heilerin auf ganz anderem Weg." Alle drei Monate gestaltete Pfarrer Felix, gemeinsam mit seinen handauflegenden Helferinnen, eine liturgische Heilungsfeier mit musikalischer Umrahmung, einem Bibeltext mit Ansprache, einer Segnung mit Öl und dem Angebot der Handauflegung. Seine Nachfolgerin im Pfarramt führt diese Tradition bis heute fort.
Wie
Hansruedi Felix, so schlug auch der Pastorin Renate Ebeling geharnischte interne Kritik entgegen, nachdem sie Anfang 1997 in der St. Nikolai-Kirche in Kiel erstmals zu einem zweistündigen "Heilungsgottesdienst" eingeladen hatte. Rund 300 Menschen waren gekommen, überwiegend Kranke. Lange Warteschlangen bildeten sich vor dem Altar, an dem die Genesungswünsche mit Handauflegen, Bittgebeten und einer Salbung bestärkt wurden. "Die Heilige Schrift trägt uns solches Tun auf",
beharrte die Geistliche, die auch im Klinikum der Christian-Albrechts-Universität von Kiel tätig ist. "Vorwürfe, das sei okkult oder esoterisch, erweisen sich im Blick auf die biblischen Belege als haltlos." Als exponierte Einzelgänger lassen sich Geistliche wie Hansruedi Felix und Renate Ebeling nicht länger abtun. Denn für ihre mutigen Vorstöße ernten sie inzwischen schon weit über ihre Gemeinden hinaus wachsende Sympathien, Ermutigung und Zuspruch; im selben Maße wird das
Murren über die dogmatische Unbeweglichkeit von Kirchenoberen vernehmlicher. In Abwandlung eines Lichtenberg-Aphorismus: In der Kirche gärt es. Ob es Wein oder Essig werden wird, ist indes ungewiss. Gegen vielerlei Vorbehalte, die diesen Gärungsprozess beeinträchtigen, geht mein Buch Wie Jesus heilen an - mit Beiträgen von mehreren Heilern, die ihren Dienst an Kranken als praktiziertes Christentum verstehen: medizinische Laien wie Beatrice Anderegg, Gertrud Emde, Thomas Köb, Margarete Rauer und Pamela Sommer-Dickson; staatlich zugelassene Heilpraktiker wie Ute Sautter; Ärzte wie Wolf-S. Schriewersmann. Bestärkt fühlen sie sich von querdenkenden Religionswissenschaftlern wie Adolf Holl, Walter Hollenweger, Manfred Josuttis und Theo Sundermeier, die ihre Bibel wohl kaum schlechter kennen als mancher mitunter unchristlich polemische Kritiker unter ihren Fakultätskollegen; von aufgeschlossenen Priestern wie Hansruedi Felix, Otto K. Fischer, Wolfgang Habbel, Gerhard Maier und Fritz Christian Schneider, die es nicht verdient haben, als unbedachte Türöffner für heidnische Subversion beargwöhnt zu werden. Ebenfalls in dieser Anthologie vertreten sind geistheilende Pfarrer wie Roman Grüter, Daniel Hari und Esther R. Suter, die in Wort und Tat schwerlich den Eindruck machen, als hätten sie sich insgeheim mit Satan verbündet. Einen engagierten Fürsprecher haben sie in Pfr. Jürgen Fliege, Moderator der erfolgreichen, inzwischen abgesetzten werktäglichen ARD-Talkshow, die seinen Namen trug. Neben Katholiken und Protestanten verdienen aber auch rand- und außenständige Glaubensgemeinschaften wie Christian Science Gehör, die hier von Klaus-Hendrik Herr, dem Leiter ihres Deutschland-Komitees für Veröffentlichungen, vertreten wird. Warum, so fragen meine Mitautoren, tun sich große Teile der Kirchen nach wie vor schwer mit dem Phänomen "Geistiges Heilen" - je weiter oben in der Ämterhierarchie, desto ausgeprägter? Was muss geschehen, damit es im Christentum wieder eine bedeutendere Rolle spielt? Welche Gründe erschweren eine Annäherung? Wie stichhaltig sind die Argumente dagegen? Denkanstöße zu mehr Offenheit sollen von dieser Anthologie ausgehen - auf dass wir dem geistheilenden Wanderprediger vom Bodensee, falls er denn eines Tages käme, nicht womöglich bitter Unrecht tun.
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