| Der Anutrof-Dreh -
Doppelpass im Dream Team.
Wie trickreich Schulen und Vereine zusammenspielen
Geneigten Lesern, die für die Mühsal dieser verstörenden Internetlektüre einen zählbaren Gegenwert erwarten, wird sogleich eine weitere, nicht minder grandiose Geschäftsidee unterbreitet, erneut eine von der todsicheren Sorte. Das Prinzip ist simpel, es erfordert lediglich etwas Einfühlung in die Innenwelt des Durchschnittsesoterikers und seine schier grenzenlose Glaubensbereitschaft, einen guten Kumpel aus der Szene, reichlich Phantasie sowie einen Schuss kaltschnäuzige Gerissenheit, die keine Skrupel kennt. Dann könnten Sie die folgenden Schritte gehen:
1. Finden Sie ein Gut, das möglichst vielen Mitmenschen enorm viel bedeutet, ihnen aus eigener Kraft aber nicht ohne weiteres zugänglich erscheint.
2. Lassen Sie sich einen Dreh einfallen, wie sich der Eindruck vermitteln lässt, dieses Gut sei zu beschaffen.
3. Ersinnen Sie einen imposanten Mythos, der erhellt, wie Sie darauf gekommen sind.
4. Gründen Sie eine Ausbildungsstätte, in der Sie den Dreh an Lernwillige weitergeben.
5. Lassen Sie Ihren Kumpel einen Verband gründen, der Ihren Absolventen urkundlich bestätigt, den Dreh meisterhaft zu beherrschen.
6. Spielen Sie mit Ihrem Kumpel fortan Doppelpass: Er führt Ihnen zahlungswillige Schüler zu, Sie ihm zahlungswillige Mitglieder.
Erforderliches Investitionskapital: ein höchstens dreistelliger Eurobetrag für den Druck von ein paar tausend Urkunden.
Dass dieses clevere Konzept nicht bloß in der Heilerszene aufgehen kann, verdeutlicht ein Gedankenspiel, bei dem wir eine Raumfahrt zum fernen Planeten Arret unternehmen. In beinahe jeder Hinsicht bietet er sich uns als Zwillingsplanet der Erde dar, mit einem einzigen Unterschied: Nicht die Geistheilerei, sondern ein befremdlicher Glückskult beherrscht die dortige Esoterikszene. Wie bei uns, so hatte man dort jahrtausendelang angenommen, Glück sei etwas, das einem eher schicksalshaft zuteil wird und umso flüchtiger ist, je angestrengter man es herbeizuzwingen versucht. Doch irgendwann setzte sich unter Eingeweihten die Ansicht durch, dies sei ein fataler Irrtum: Glück ergebe sich vielmehr aus dem geheimen Wirken einer einzigartigen, höchst subtilen Energie, bei der es sich um eine unmittelbare Emanation des göttlichen Geistes handle, der das gesamte Universum durchdringt und ordnet: die Anutrof-Energie. Manchen soll diese Einsicht nach einer dreiwöchigen Fastenmeditation auf einem heiligen Berg zuteil geworden sein, anderen durch die Einflüsterung eines Erzengels, die medial empfangene Botschaft eines erleuchteten Geistführers, eines homophilen Venusiers oder eines Parallelweltlers aus der 27. Dimension; wieder andere wollen sie in uralten Sanskrit-Texten entdeckt haben oder darin von einem weisen Eremiten aus einer entlegenen Hochgebirgshöhle eingeweiht worden sein. Seither treten auf Arrets Esoterikmessen immer häufiger mancherlei charismatische Gestalten auf, die sich zur außersinnlichen Wahrnehmung des Anutrof-Energieflusses befähigt wähnen; Handbücher, die zur gekonnten Manipulation von Anutrof anleiten - mit Titeln wie "Der Anutrofianer in dir" oder "Auch du kannst anutrofieren" - belegen monatelang Spitzenplätze auf Arrets esoterischen Bestsellerlisten. Immer häufiger lassen Boulevardpresse und Talkshows überzeugte Anutrofianer zu Wort kommen ("Seit ich anutrofiere, finde ich in der Innenstadt immer einen Parkplatz", "Vom Anutrof-Strahl zu vermisstem Kind geleitet", "Jackpot geknackt - dank Anutrof", "Kurz bevor ich meiner Traumfrau begegnete, erfasste mich eine zartrosa leuchtende Vibrationswelle, die aus ihrer Richtung kam" usw.)
Bald darauf eröffnen die ersten Anutrof-Schulen, die lehren, wie der Strom der Glücksenergie erspürt, kanalisiert, verstärkt und weitergeleitet werden kann. Vielerlei Methoden hierfür werden propagiert: Manche schwören auf das gekonnte Visualisieren gewisser hochgeheimer Symbole, andere empfehlen ein 99teiliges System von T´ai-Chi-ähnlichen Bewegungsabläufen; wieder andere ziehen es vor, mittels Fußauflegen ein soeben erst entdecktes achtes Hauptchakra unterhalb des Steißbeins, in Afterhöhe, zu manipulieren; wieder andere bevorzugen den Anutrophic Touch, bei dem manuell die entlang des 756. Meridians liegenden Glücksrezeptoren im Astralkörper aktiviert werden, nach vorherigem Clearing von auraschwarzer Pechenergie.
Parallel dazu entstehen Anutrofianervereine, in denen sich die Glückstechniker sammeln. Ein Prüfungswesen wird installiert, das sie zu "Anerkannten Anutrofianern" bzw. "Anutrof-Meistern" befördert, nachdem sie vor einer Kommission unter Beweis gestellt haben, dass sie den anutrofischen Ehrenkodex auswendig aufsagen können ("Ich verspreche kein Glück", "Sexuelle Beziehungen zu Klienten mit Anutrofmangel sind für mich tabu" usw.), die historische Entwicklung des Anutrofismus sowie die einschlägigen Gesetze z.B. bezüglich des staatlichen Glücksspielmonopols in Grundzügen erläutern und die für anutrofische Beibringungsrituale obligatorischen Bewegungsabläufe vorführen können.
Es dauert nicht lange, bis Anutrof-Schulleitern und Anutrof-Vereinsvorständlern ein Licht aufgeht, wie sie zu beiderseitigem Nutzen kooperieren könnten: Die Vereine lassen stapelweise Urkunden drucken, auf denen sie gewissen Anutrof-Schulen gegen Lizenzgebühr bescheinigen, ein von ihnen "Anerkannter Ausbildungsbetrieb" zu sein. Hierzu genügt die Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses sowie der Nachweis, dass schriftliches Anutrof-Lehrmaterial zur Verfügung gestellt und Anutrof-Kurse in geeigneten Räumlichkeiten abgehalten werden; außerdem soll der Anutrof-Dozent für die Kursteilnehmer bis zu einem Jahr nach Ausbildungsende bei Problemen ansprechbar sein. Schulen, die eine solche Lizenz erwerben, werden vom Verein nachdrücklich empfohlen; dafür revanchieren sich lizenzierte Anutrof-Schulen, indem sie ihren Absolventen empfehlen, dem Verein beizutreten. So verschaffen sich beide einen Wettbewerbsvorteil auf Arrets Esoterikmarkt, und bei beiden beginnen die Kassen zu klingeln.
Dieses Doppelpass-Spiel ist für die Beteiligten umso lukrativer, je niedriger sie die Zugangshürden für ihre Zielgruppen ansetzen: Je leichter Ausbilder sich Lehrkompetenz bescheinigen lassen können, desto mehr streben sie an; je leichter es Schülern gemacht wird, sich ihre anutrofischen Qualitäten mit dem Gütesiegel eines Vereins bestätigen zu lassen, desto bereitwilliger zahlen sie Mitgliedsbeiträge und Zertifizierungsgebühren.
Das System funktioniert auf Arret wie geschmiert, zu beiderseitigem Nutzen, beruhend auf einem Tauschhandel mit Gaukelwerk, das so virtuell ist wie manches fintenreiche Anlagekonstrukt, das auf den globalen Finanzmärkten hin- und hergeschoben wird. Trotzdem gibt es, wie bei jeder vermeintlichen "Win-Win"-Situation, auch Verlierer - nämlich jene beiden Zielgruppen, deren Finanzkraft die Geldmaschinerie am Laufen hält: Anutrof-Ausbildungswillige und der glücksuchende Konsument im allgemeinen. Sie füttern das System, solange vier Voraussetzungen erfüllt sind: ein weitverbreiteter Glaube daran, dass in jedem von uns ein Anutrofianer steckt; Zutrauen in das Versprechen der Lehrer, brauchbare Techniken zur Anutrofbeherrschung vermitteln zu können; ein unangetasteter Ruf der zertifizierenden Vereinsfunktionäre; die Neigung potentieller Kunden, sich von Gütesiegeln beeindrucken zu lassen. Gerät auch nur eine davon ins Wanken, muss für Arrets Glückskult schwarzgesehen werden - wie auch für den irdischen Heilerboom.
Mehr zum Thema im jüngsten Buch von Harald Wiesendanger:
HEILEN “HEILER”? Ein Wegweiser für Hilfesuchende
(Lea Verlag: Schönbrunn, 3. erw. Aufl. 2009)
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