Ende der zwanziger Jahre verlagerte sich der organisatorische Schwerpunkt der Theosophie von Indien zurück nach Amerika und Europa. Mitschuld daran war das
"Krishnamurti-Desaster". Dies nahm seinen Ausgang vom letzten Tag des Jahres 1908: Da verkündete Blavatskys Nachfolgerin Annie Besant (1847-1933) einem verblüfften britischen Publikum, der Tag sei nahe, da ein neuer Heiland und Weltenlehrer "ein weiteres Mal geruhen wird, das Dasein von uns Sterblichen zu teilen". Diesen neuen Heiland wähnte Besant elf Monate später gefunden zu haben, als sie dem 14jährigen Sohn eines indischen Büroangestellten begegnete: Jiddu
Krishnamurti. Intuitiv erkannte sie in ihm den Langersehnten, adoptierte ihn und arbeitete in den folgenden zwei Jahrzehnten unermüdlich daran, den Jungen in seine Rolle hineinzuerziehen. Als speziell auf ihn als Heiland ausgerichtete neue Organisation gründete sie den "Orden des Sterns im Osten". Doch ab Mitte der zwanziger Jahre empfand Krishnamurti seine Würde zunehmend als Last. Schließlich, im Jahre 1929, sagte er sich während eines helles Entsetzen auslösenden Auftritts
in einem theosophischen Sommerlager in Holland endgültig von seiner Ziehmutter und ihren ehrgeizigen Plänen los: Er erhebe keinerlei Anspruch auf Göttlichkeit; seine Anhänger mögen die Erleichtung fortan in ihren eigenen Herzen suchen; nach reiflicher Überlegung habe er beschlossen, den "Orden des Sterns im Osten" aufzulösen.
Während Krishnamurti sich von nun an zu einem eigenständigen, hochgeachteten Weisheitslehrer und Erzieher entwickelte, erholte sich die verschmähte
Annie Besant von dieser Enttäuschung, die sie als vernichtenden Schlag eines undankbaren, über alles geliebten Zöglings empfunden haben muss, nicht mehr, bis sie vier Jahre später starb. Auch das Ansehen der theosophischen Bewegung insgesamt, auch und gerade in ihrem zweiten Stammland Indien, litt schwer, auch wenn die indische Sektion der "Adyar-TG" weiterhin fortbestand. . Das beachtliche Ausmaß, in dem die Theosophische Gesellschaft seit Blavatskys Tagen in die indische
Kultur hineinwirkt, darf trotzdem nicht unterschätzt werden. Gerade Annie Besant zählte dort eine Zeitlang zu den meistgeachteten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, zumal sie sich nachhaltig politisch und sozialreformerisch betätigte, leidenschaftlich für die Rechte von Frauen und Unterprivilegierten eintrat und das Selbstbestimmungsrecht des indischen Volkes gegen die englischen Kolonialherren vehement verteidigte. 1917 wurde sie zur Präsidentin des Indian National Congress gewählt,
der "Kongresspartei", die Indien unter Gandhi und Nehru drei Jahrzehnte später in die Unabhängigkeit führen sollte. Maßgeblich unter ihrer Regie pflanzte die Theosophie dort Samen, die bis heute aufgehen - und auch ins "spirituelle Heilen" hinein Blüten treiben, die sich vom INEH-Netzwerk nicht einfangen lassen. Dazu zählt vor allem die Organisation des "Wisdom Teaching Temple", dessen Gründer und Leiter Sri Ch. S. N. Raju inzwischen auch Europa mit einer
eigenwilligen "Weiterentwicklung" theosophischer Heilkonzepte zu missionieren versucht.
Im Jahre 1970 soll es gewesen sein, als der damals 20jährige Raju seinem "Meister" begegnete: Kulapati Ekkirala Krishnamacharya, den er seither als "Meister E.K." in Blavatskys Sinn verehrt. In "E.K." erkannte Raju ein "vollkommenes Wesen", das der "Großen Weißen Bruderschaft" angehörte. (Zu ihr rechnet Raju unter anderem auch Altbekannte
wie Lord Maitreya, Murya, Koot Hoomi, Dwjhal Kul - allesamt "die Sonnen der Erde, die für alle leben und alle lieben".) Diese Gruppe steuere, von ihrem Wohnsitz Kalapa im Himalaya aus, "die Entwicklung der Wesen auf der Erde" und leite uns, als ihre "jüngeren Brüder" auf unserem Weg, ebenfalls "Meisterschaft" zu erlangen. Um 1970 soll "Meister E.K." aus der dünnen Luft tibetischer Gebirgshöhen herabgestiegen sein, und als zumindest Raju dessen
wahrer Herkunft gewahr wurde, war er "von seiner Gegenwart sogleich magnetisiert". Zu Füßen des Meisters fand Raju "meine Lösung, mein Ziel, alles", weshalb er sich freudig "seinem Plan und Programm unterwarf".
Vom Grenzenlosen ins Unermessliche schwoll Rajus Verehrung, als ihm "E.K." eröffnete, dass er in "spirituellem Kontakt" mit einem weiteren, mindestens ebenso meisterhaften Meister stehe: "Meister C.V.V.", "geboren
am 4. August 1868 in Kumbhakonam". Bei ihm handle es sich um den "Meister des Wassermann-Zeitalters" (Aquarian Master), der "die New Age-Energie, welche ‚Energie der Synthese' genannt wird, von Höheren Ebenen empfängt, auf die Planetarische Ebene lenkt" und über die Erde verteilt. Noch erleuchteter wurde der Erleuchtete um Mitternacht vom 31. März 1910, als "ein enormer Ausfluss an Energie aus dem Schwanz des Halley´schen Kometen, der in jenem Jahr
unserer Sonnensystem besuchte, in Meister C.V.V. herabstieg. Die Energien schlugen ins Haus des Meisters ein wie ein blendender Strahl", begleitet von einem "donnernden Geräusch". Als Nachbarn zu Hilfe eilen wollten, sollen sie "C.V.V. in Meditation versunken" angetroffen haben. Just von jener Nacht an habe C.V.V. "in vielen Experimenten Wege und Mittel gefunden, die menschliche Struktur so zu formen, dass sie Unsterblichkeit erlangen kann. Er erforschte
kosmische Klänge" und "formulierte gewisse Klangformeln, welche die menschliche Psyche effektiv aufrichten". In der Tat: ein wahrer "Spirtueller Wissenschaftler des Wassermann-Zeitalters".
Im November 1971 gründete der derart inspirierte "Meister E.K.", dessen Konterfei in beeindruckender Bildschärfe auf Rajus Internetseite zu besichtigen ist, "The World Teacher Trust" im südindischen Vishkapatnam. Auf Geheiß des Meisters richtete Raju bald
darauf eine Filiale in Machilipatnam im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh ein. Als "E.K." ihm 1980 dort höchstpersönlich seine Aufwartung machte, schlug der Meister dafür den Namen "Wisdom Teaching Temple" vor. Diesen betreibt Raju seither in der "demütigen Absicht, alte Weisheit um den ganzen Erdball zu verbreiten", "östliches und westliches Gedankengut zusammenzubringen" und "am Weltfrieden zu arbeiten". In diesem "Tempel"
werden Bedürftige unentgeltlich beraten und medizinisch versorgt, wobei hauptsächlich Homöopathie zum Einsatz kommt. Seit 1984 ist Rajus Tempel eine Schule angegliedert, das "Balabhanu Vidyalayam" (wörtlich "ein Ort zur Erziehung der aufgehenden Sonnen"). Deren oberstes Ziel besteht darin, Kindern "nicht nur Bildung, sondern Erziehung" zu vermitteln - Erziehung im theosophischen Sinne. Auf dem Lehrplan stehen unter anderem die Heiligen Schriften des alten
Indien, Yoga, eine von Raju "weiterentwickelte" "Spirituelle Astrologie", "Erziehung für ein Neues Zeitalter", reichlich Theosophie - und ausdrücklich auch das "Heilen", getreu einem Motto von "E.K.", das Raju mit Vorliebe zitiert: "Es gibt nichts Edleres und Frommeres in dieser Welt, als Kranke zu heilen."
Zu diesem Zweck hat Raju das Planetary Healing entwickelt, in dem theosophische Elemente wie die "Sieben Strahlen" mit klassischem Yoga (Raja und Kriya) sowie Anleihen bei Reiki, Prana-Heilen, Magnified Healing und deren “Melchizedek”-Erweiterung verschmolzen werden. (Raju gibt an, "Anwender des Melchizedek-Heilsystems 3. Grades, Meisterlehrer in Magnified Healing, Magnified Healing Lichtheiler und Großmeister in Reiki" zu sein.) Über Risiken und Nebenwirkungen ist vorerst nichts bekannt - ebensowenig allerdings über medizinisch dokumentierte Heilerfolge, die das
Potential untheosophischer Behandlungsalternativen himalayahoch übersteigen. Bis auch dem letzten Zweifler endlich Energiestrahlen aus erdnahen Kometenschwänzen in die Wohnstube gezuckt sind, wird sich daran bestimmt einiges geändert haben.
Quellenangaben und weitere Literaturhinweise in Fernheilen, Band 1. |