Der Leidensweg der Anneliese Michel:
ein verkanntes Lehrstück
Bis sie sechzehn war, deutete nichts im Leben der Anneliese Michel darauf hin, dass sie bald im Mittelpunkt des aufsehenerregendsten Besessenheitsfalls der deutschen Nachkriegsgeschichte stehen würde. Am 21. September 1952 geboren, lebte sie mit ihren Eltern in Klingenberg, einer hessischen Kleinstadt am rechten Mainufer zwischen
Odenwald und Spessart. Im nahen Aschaffenburg besuchte sie das Gymnasium. Der Vater war Sägewerksbesitzer, die Mutter Hausfrau; Millionen anderer Familien in Deutschland müssten eher im Verdacht stehen, Nährboden für eine schwere Geisteskrankheit zu sein, als die gesicherten, harmonischen Verhältnisse, in denen Anneliese aufwuchs. Ihre Ängste, Selbstzweifel und Konflikte, ihre Sorgen und Sehnsüchte waren im großen und ganzen die einer jungen Frau an der Schwelle zum Erwachsensein, ohne
psychische Auffälligkeiten, die sie von Gleichaltrigen deutlich abgehoben hätten.
Ihr tragischer Leidensweg beginnt im September 1968, als sie einen ersten Ohnmachtsanfall erlebt. In der darauffolgenden Nacht schreckt sie aus dem Schlaf - und kann sich nicht bewegen, alle Glieder kommen ihr völlig steif vor. Sie fühlt sich von einer unsichtbaren, übermächtigen Kraft zusammengepresst, die ihr den Brustkorb einschnürt und den Atem nimmt. In Todesangst ringt sie nach Luft, will um Hilfe
rufen, doch sie bringt keinen Laut über die Lippen. Voller Panik nässt sie ins Bett. Nach einer Viertelstunde ist das grauenvolle Erlebnis vorüber.
Knapp ein Jahr später, in der Nacht vom 23. zum 24. August 1969, wiederholt sich ein ähnlicher Vorfall, ebenso im Juni und September 1970. Anneliese beginnt zu kränkeln, leidet mehrfach an Mandelentzündungen, dann an Rippenfell- und Lungenentzündung, schließlich an Tuberkulose. Seit Sommer 1970 erscheint ihr hin und wieder eine riesige,
teuflische Fratze, vor der ihr graut. Ihren Mitschülerinnen fällt auf, dass Anneliese zunehmend stiller wird, in sich gekehrt wirkt und religiöse Gespräche sucht; sie beginnt unter Depressionen zu leiden. Ab Oktober 1972 nimmt sie immer häufiger einen bestialischen Gestank wahr, den Umstehende aber nicht riechen können. Oft überkommen sie quälende Visionen und Empfindungen, «als ob ich in der Hölle wäre». Ab Frühjahr 1973 treten im Elternhaus spukhafte Klopfgeräusche auf, die auch andere
Familienmitglieder deutlich hören.
Ungeachtet dieser Vorfälle beginnt Anneliese Michel, nachdem sie im Spätsommer 1973 ihr Abitur bestanden hat, im November ein Studium der Pädagogik und Theologie in Würzburg. Vorübergehend wirkt sie erholt. Doch ab Frühjahr 1975 fällt sie wieder in den alten Zustand zurück: mit schubweisen Ausbrüchen, unterbrochen von Phasen völliger Gefasstheit. während ihrer Anfälle aber empfindet sie immer stärker, keine Gewalt mehr über "sich zu haben. Sie
entwickelt eine ausgeprägte Abneigung gegen alle religiösen Symbole; in deren Nähe tobt sie wie rasend. Sobald Gebete angestimmt werden, beginnt sie mit veränderter Stimme lauthals zu schreien. Weiterhin zur Kirche zu gehen, ist ihr unmöglich. Sie wird immer unruhiger und aggressiver. Trotz Hungers «verbietet» ihr «etwas» in ihr, Nahrung zu sich zu nehmen, «zwingt» sie zum Ausspucken und Erbrechen.
Von der Karwoche 1976 an verschlechtert sich ihre Verfassung weiter. Am Gründonnerstag
steht sie Todesängste aus, während sie visionär den Leidensweg Christi nachvollzieht, mit rasenden Schmerzen an Händen und Füßen. Tags darauf fühlt sie sich durch eine unsichtbare Macht am Reden gehindert; sie spricht schleppend, lallend. Am Karsamstag liegt sie stundenlang steif im Bett. Immer wieder brüllt und tobt sie, spuckt um sich. Fremde Stimmen sprechen aus ihr. Zwischen ihren Anfällen wirkt sie nach wie vor völlig normal, ausgeglichen, manchmal sogar vergnügt. Trotz ihrer Entkräftung
kann sich Anneliese noch auf die zweite Lehramtsprüfung vorbereiten. Allerdings macht sie auf Mitstudenten einen zunehmend apathischen Eindruck.
Im Juni 1976 spitzen sich die unheimlichen Vorgänge dramatisch zu. Bei mehreren Anfällen schlägt Anneliese mit ihren Fäusten wie von Sinnen derart auf sich selbst ein, daß ihr Gesicht geschwollen, ihr Körper mit blauen, roten und schwarzen Flecken übersät ist. Mit dem Kopf voraus stürzt sie sich durch die Glasscheibe einer Korridortür. Sie
stopft sich Fliegen und Spinnen in den Mund, kaut an Kohle, uriniert auf den Küchenboden und leckt den Harn auf. Mittlerweile ist sie zum Skelett abgemagert: Statt wie früher 53 wiegt sie nur noch 31 Kilogramm. wenn Angehörige sie zu füttern versuchen, speit sie das Essen wieder aus, oder sie presst die Lippen fest aufeinander und bewegt den Kopf wie rasend hin und her. Trotz hohen Fiebers unterzieht sie sich aberwitzigen Torturen: Bis zu sechshundertmal hintereinander macht sie Kniebeugen,
mit Unterbrechungen von wenigen Sekunden. Am 1. Juli 1976, gegen ein Uhr nachts, stirbt Anneliese Michel, völlig entkräftet. Als Todesursache stellt ein herbeigerufener Arzt «Tod durch Verhungern» fest, «in Verbindung mit schwerer körperlicher Überanstrengung». Allerdings fällt ihm auf, dass an Annelieses Körper keinerlei Aufliegegeschwüre festzustellen sind, wie sie bei Verhungerten sonst üblicherweise auftreten. Auch protokolliert er, s6
dass die Pupillen der Toten außergewöhnlich
geweitet sind.`
Was machte die junge Frau krank? Fünf Jahre nach ihrem ersten Anfall war in Anneliese erstmals der Verdacht aufgekeimt, sie könnte «dämonisch besessen» sein. «Der Teufel ist in mir», äußerte sie im September 1973, «alles ist leer in mir.»
Genauso wäre das Mädchen auch von seiner Umwelt beurteilt worden, falls es einige hundert Jahre früher gelebt hätte. Zu allen Zeiten, und bis heute in nahezu sämtlichen Kulturkreisen außerhalb der westlichen Welt, sind
Anfallsleiden mit derartigen Symptomen auf das Einwirken böser Geister zurückgeführt worden, die vom Körper eines Menschen Besitz ergreifen und seine Persönlichkeit zurückdrängen können - seien es Totenseelen, Dämonen oder Satan, das personifizierte Böse schlechthin.
Hysterie, Schizophrenie, Paranoia, Epilepsie?
Erst die abendländische Medizin der Neuzeit hat mit solchen Krankheitstheorien radikal gebrochen.
Vermeintlich «Besessene» werden seither als geisteskrank etikettiert. Eine Psychose in verschiedenen Stadien und Ausprägungen wird ihnen bescheinigt; gelegentlich «Hysterie» oder «Epilepsie», am häufigsten jedoch «Schizophrenie» oder «multiple Persönlichkeit». Sofern Hirnstromkurven keine organische Ursache anzeigen, werden unbewusste seelische Spannungen angenommen. Auf der Suche nach deren wurzeln werden die frühe Kindheit und das soziale Umfeld durchforstet. Die Überzeugung der Betroffenen
selbst, im Griff unsichtbarer Fremdwesen zu sein, wird als wahnhaftes Symptom der Erkrankung abgetan, ihre außergewöhnlichen Wahrnehmungen als Halluzinationen.
Genauso verfuhren Ärzte, die mit Anneliese Michel zu tun bekamen. Als das Mädchen am 25. August 1969, zwei Tage nach ihrem zweiten schweren Anfall, und später nochmals am s. September 1972 in Aschaffenburg den Neurologen Dr. Siegfried Lüthy aufsuchte, nahm dieser jedesmal ein Elektroenzephalogramm (EEG) auf. Obwohl sich dabei
kein krankhafter Befund ergab, tippte er auf Epilepsie. Auch die Würzburger Universitätsnervenklinik und Poliklinik, in der Anneliese Ende November 1973 untersucht wurde, fahndete ausschließlich nach organischen Ursachen - und schien schließlich auch fündig geworden: Auf einem dritten EEG sollen sich, laut Befundbericht, nun plötzlich «epileptische Muster» gezeigt haben, «die auf eine herdförmige Hirnschädigung im linken Schläfenbereich hinweisen». Diese Diagnose wiederholte der Würzburger
Professor Hans Sattes dann auch in seinem Gutachten vor der Ersten Großen Strafkammer des Landgerichts Aschaffenburg, das vom 30. März bis 28. April 1978 über die Frage der Schuld an Annelieses Tod zu befinden hatte. Irgendwann habe sich diese Epilepsie wohl in eine «psychogene Psychose» verwandelt, mutmaßte der Professor. Dem schlossen sich die beiden anderen medizinischen Gutachter, Professor Dr. Alfred Lungershausen und Dr. Gerd Klaus Köhler von der Abteilung Psychiatrie II der Universität
Ulm, weitgehend an: Annelieses «Psychose» führten sie auf traumatische Kindheitserfahrungen zurück. Sie habe sich mit dem Über-Ich ihres autoritären Vaters identifiziert und ihre Hassgefühle unterdrückt, woraus ihre Aggressionen erwachsen seien, gegen andere ebenso wie gegen sich selbst. Daraus habe sich, vor dem epileptischen Hintergrund, irgendwann eine «paranoid-halluzinatorische schizophrenieähnliche Psychose» entwickelt, verbunden mit Depressionen.
Wird eine solche
Betrachtungsweise mutmaßlichen Besessenheitsfällen stets gerecht? Immerhin hat der schulmedizinische Ansatz einem jahrtausendelangen, verhängnisvollen Besessenheitswahn ein Ende gesetzt, der zu den finstersten Kapiteln der abendländischen Kulturgeschichte gehört. Seit vorchristlichen Zeiten stand nicht nur im einfachen Volk, sondern selbst unter Gelehrten, Ärzten und Priestern beinahe alles, was ihnen an menschlichem Verhalten und Befinden befremdlich vorkam, allzu rasch im Verdacht,
dämonischen Ursprungs zu sein. Ein «böser» Blick, eine lästerliche Äußerung, ein außergewöhnliches Wissen, eine körperliche Besonderheit genügten oft schon, des Bundes mit finsteren Mächten bezichtigt zu werden. Ein Großteil der bis zu neun Millionen Menschen, die seit dem 15. Jahrhundert auf den Scheiterhaufen der Inquisition verbrannten, galt ihren Richtern als besessen; bestialische Folter hatte den Opfern zuvor entsprechende Geständnisse abgerungen. Und hinter jeder Erkrankung witterte
man dämonische Einwirkungen, oft infolge schwerer Sünden, die dem Bösen eine Eingangstür öffneten.
Inzwischen kennen wir genetische Faktoren, organische Schäden und Fehlfunktionen, Krankheitserreger wie Viren und Bakterien, Umwelteinflüsse und psychosoziale Vorbedingungen, die uns zahlreiche Krankheiten in ihrer Entstehung, ihrer Symptomatik und ihrem Verlauf hinlänglich verstehen lassen, ohne dass wir noch nach «höheren» Ursachen suchen müssten. Damit sind spiritistische
Krankheitstheorien strenggenommen nicht widerlegt. (Dass beispielsweise jene Fehlfunktion des Gehirns, die epileptische Anfälle auslöst, von Dämonen mitverursacht wird, bleibt eine logische Möglichkeit.) Aber sie scheinen überflüssig: Um zu erklären, wie und warum Menschen erkranken, kommen heutige Mediziner ohne sie aus.
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